160-Stunden-Inzidenz
Die Überschriften bei Google-News durch­scrollend lese ich „Sieben-​Tage-​Inzi­denz geht leicht zurück“ und denke mir, der eine oder andere Schrei­ber­ling hätte es durch­schaut. [1] Der Beginn des Arti­kels mit „meldet 7.051 neue Corona-​Fälle ‒ etwa 1200 mehr“ und „dennoch sinkt die Sieben-​Tage-​Inzi­denz“ ließ auf Wider­spruchs­erken­nung hoffen. Doch weit gefehlt, es wird einfach hinge­schrieben, was vom RKI angeb­lich gemeldet wurde, daß die Sieben­tage­inzi­denz von 135,2 auf 132,5 gefallen sei. Dann noch ein paar weitere Zahlen und Bild­chen, und das Zeilen­honorar ist einge­strichen.

Gelegentlich hatte ich das RKI verdächtigt, Fälle auf das Ansteckungs­datum rück­zuda­tieren und damit zu nie­drige aktuelle Werte raus­zuhauen, die dann in den Folge­tagen von der Öffent­lich­keit unbe­merkt ange­hoben werden. Das triftt für den R-Wert wohl auch zu. Für die Sieben­tage­inzi­denz ist es schlich­ter und bru­taler: Die im Laufe des gestrigen Tages gemel­deten neuen Fälle kommen in die Spalte „Diffe­renz zum Vortag“. Unter „Fälle in den letzten 7 Tagen“ werden von diesen nur solche gesam­melt, die von den Gesund­heits­ämtern auch auf einen Tag der vergan­genen Woche datiert wurden. Ich muß also ein Lob ausspre­chen: Eine Abwei­chung beider Zahlen von nur 5 Pro­zent läßt darauf schließen, das zwei Drittel aller Fälle noch am gleichen Tage über­mittelt werden. [2]

Es bleibt dabei, was ich zum 20. März schrieb: RKI nennt 104, ich sehe für die vergan­gene Woche 108, was aktuell wohl 126 sein werden. Und heute: RKI 132 und ich 142 für die vergan­gene Woche, etwa 160 aktuell. [3] Man kann sich nicht damit entschul­digen, die Berech­nungs­methode genannt zu haben. Zur guten und redli­chen Wissen­schaft gehört, Begriffe und Kenn­zahlen ange­messen zu bilden. Ich sähe gerne, daß Corona nicht nur die Belie­big­keit im Denken fördert, sondern auch zur oft behaup­teten neuen Wissen­schaft­lich­keit bei­trägt. Viro­logie mit seichter Stati­stik und Medizin als Hand­werk werden das nicht bewirken.



Wochenverlauf meiner Inzidenzen (blau) und der des RKI (rot) (png)

Nun ist ein Tag vergangen. Das RKI und ich mußten unsere 160- bzw. 168-Stunden-​Inzidenz beide um 2 anheben. [4] Die vorste­hende Abbildung zeigt die Verläufe des letzten Monats. Den säkularen Unterschied von etwa 5 Pro­zent hatte ich gestern erläu­tert. Heute ein paar weitere Bemer­kungen, die verdeut­lichen sollen, daß es sich nicht nur um zufällige Schwan­kungen handelt, sondern auch um schlichte Fehl­berech­nungen, sei es aus Nai­vität, Verbes­serungs­angst oder vorsätz­licher Augen­wischerei.

Vor einem Jahr erwies sich der Viertage-R‑Wert trotz Glättung als stark schwankend und wochengängig. Der Siebentage-R‑Wert hat das naturgemäß abgemildert. Es blieben aber die Schwan­kungen dieser zweiten Ablei­tung der Gesamt­infek­tions­zahlen. [5] Die erste Ableitung ist numerisch stabiler zu bestimmen und zu plötz­lichen starken Schwan­kungen kaum in der Lage. Es war also geschickt, den R‑Wert vergessen zu machen und auf die Sieben­tage­inzidenz zu setzen, von der man eigent­lich nicht nur dem Namen nach eine geringe Wochen­gängig­keit erwarten sollte. Das ist grundsätzlich auch so. Geringe Zuwächse am Wochenende werden durch ebenso geringe Abgänge eine Woche zuvor ausge­glichen. Nur holt man sich einen Teil dieser vermeid­baren Schwan­kungen wieder herein, wenn man die Zahlen im Wochen­verlauf ungleich­mäßig stutzt. Dem Bild ist deutlich zu entnehmen, wie die vom RKI raus­gehau­enen Inzi­denzen auf Mittwoch einbre­chen, weil der Melde­verzug am Wochen­beginn beson­ders hoch ist. Da reicht ein kleiner lokaler Aus­setzer, und schon kann es wie gestern trotz säku­laren Wachstums von täglich 4 Prozent zu rück­läufigen Werten kommen.

Ich bin sicher, die richtigen Wissen­schaftler des RKI haben schon längst vorge­schlagen, die Berech­nung der Inzi­denzen auf realisti­schere und allein schon dadurch stabi­lere Beine zu stellen. Das könnte von der Leitung abge­schmet­tert worden sein, die dem Volk keine weiteren Ände­rungen zumuten will. Plötz­lich leicht höhere Werte sind poli­tisch nicht gewollt und diskre­ditieren die vergan­genen Ver­lautba­rungen. Image wird vor Redlich­keit gehen. Mehr erwarte ich auch gar nicht von einer Behörde eines unver­stän­digen Volkes. Nur sollte man immer dann, wenn vom Einfluß der Wissen­schaft auf die Politik die Rede ist, neben den Ethik­räten auch das RKI außen vor lassen.

Ich könnte diesen Mangel dem RKI schrift­lich vortragen, gehe jedoch davon aus, daß er bereits lange Zeit bekannt ist. Außerdem sollen Anfragen regel­mäßig mit dem Über­lastungs­argument abge­schmet­tert werden. Und für blöde Antworten benötige ich das RKI nicht. Da reichen mir Voda­fone und Lidl. Viel­leicht wird irgend­wann im Elfen­bein­turm der wahre Sach­verhalt geklärt. Nur inter­essiert es dann weder die dumpfe Masse noch die sich Journa­listen nen­nenden Über­schrifts­akro­baten. Obwohl: Ganz frei bin ich davon auch nicht, sonst hätte ich nicht mit „160-Stunden-​Inzi­denz“ über­schrieben, sondern „Vorschläge zur Verbes­serung der Kalku­lations­genauig­keit von Inzi­denzen auf Basis zensu­rierter Melde­daten“ als Titel gewählt.

Wieder ist ein Tag vergangen, nämlich der Gründonnerstag, an dem Katho­liken Grün­kohl mit fettiger Wurst essen dürfen, sich aber im Umfeld merk­wür­diger Umtriebe wohl lieber mit einhei­mischen Spezia­litäten den Magen voll­schlagen, auch mit Fisch. [6] Möglicher­weise hat ihr reli­giöser Eifer während der hei­ligen Karwoche ein paar Corona-​Fälle als weniger wichtig auf dem Schreib­tisch liegen lassen. Jeden­falls läßt das RKI die Sieben­tage­inzi­denz heute erneut bei 134 verharren. Ein Zeichen dafür, daß die Melde­quote der letzten Tage deut­lich hinter das normale Maß zurückfiel. [7]

Ganz so schlimm ist es nicht, denn die vom RKI behauptete Stagna­tion beruht zumin­dest zu Teil tatsäch­lich darauf, daß es in den letzten drei Tagen weniger forsch nach oben ging als in den zehn zuvor. Ist es nur voröster­liche Melde- und Test­müdig­keit oder fromme Einsicht? Jeden­falls sehe ich es einen Funken besser als die dauernd vom exponen­tiellen Wachstum und der dritten Welle brab­belnden Instituts­leiter, Poli­tiker, Nach­richten­sprecher, Talk­schau-Teil­nehmen­den und -Mode­räto­rinnen: Die Wachtums­rate geht zurück. Bleibt es dauerhaft dabei, ist nicht mit einem Anstieg durch die Decke zu rechnen, sondern nur mit einer Berg­spitze, so hoch sie auch sein mag. [8] Und von einer dritten Welle würde ich erst sprechen, wenn die derzei­tige Entwick­lung anhält und sich nicht als erneute Delle in der zweiten Welle erweist.

Wieder ist ein Tag vorüber. Und auf den heutigen Karsamstag ist sowohl meine, als auch die Sieben­tage­inzidenz des RKI um 3 gesunken. Drei Tage in Folge liegt mein Wert um stolze 10 höher. Das ist recht viel und Folge eines in der Karwoche zu erwar­tenden wach­senden Melde­verzuges, der sich auch im Gesamt­volumen deutlich bemerkbar macht, wodurch selbst meine Werte gedrückt werden. Ein weiterer Grund für den Einbruch der Sieben­tage­inzidenz sind in der Karwoche zurück­gestellte, unter­lassene und unbear­beitete Tests. Im besten Falle führte das rasante Wachstum der letzten Wochen zu Angst oder gar voröster­licher Einsicht. In einer Woche wird sich alles norma­lisieren, auf welchem Niveau auch immer.

Heute ist Mittwoch nach Ostern, und zum erstenmal höre ich in den Fernseh­nach­richten, daß die Sieben­tage­inzidenz auf unvoll­stän­digen Daten beruhe. Wohl keine selbst­bewußte Entschei­dung der Redak­tion, sondern wie andere falsche und richtige Mittei­lungen wohl einfach Folge eines neuen Warn­hinwei­ses des RKI am Beginn ihrer tägli­chen Verlaut­barungen. Ehrli­cher als solche Inter­preta­tionsbei­gaben, die viele überhören und andere nicht benötigen, wären zwei Mög­lich­keiten: Nur noch win­zigen Ände­rungen unter­liegende Sieben­tage­inzi­denzen von vor einer Woche anzu­geben und diese Verzö­gerung mit der gleichen Pene­tranz zu erläu­tern mit der auch der R‑Wert erklärt wurde. Oder ein ordent­liches Modell benutzen, das aktu­elle Werte mög­lichst gut prog­nosti­ziert, vor allem im Mittel nicht von der Rea­lität abweicht. Das sollte doch möglich sein, denn so spontan entwickeln sich die wahren Verhält­nisse nicht.

[1] Sieben-Tage-Inzidenz geht leicht zurück. FAZ, 30.03.2021. Leider keinen Autor gesehen. Und Schrei­ber­ling/liese bzw. Schrei­ber­ling_in waren mir etwas zu sperrig.

[2] Grobe Rechnung: Werden von täglich 100 Fällen 65 noch vor Mitter­nacht gemeldet, die rest­lichen 35 wenig­stens am nächsten Tag, so berück­sich­tigt das RKI wöchent­lich 665 der insge­samt 700. Das sind 5 Pro­zent zuwenig.

[3] Das geht mit Schulmathematik: RKI-Zahl vergessen. Gesamt­zahl der letzten Woche von der heu­tigen abziehen (2.808.873−2.690.523=118.350) und durch 835 teilen ergibt die 142. Da wir (gegen Mittag) dem Mittel der vergan­genen Woche um vier Tage voraus sind, fügt es sich gut, daß der R-Wert auf vier Tage berech­net wird: Also einfach mit dem aktuel­len R=1,13 multi­pli­zieren, und schwupps ist man bei reali­sti­schen 142⋅1,13=160 für heute.

[4] Ich spreche spaßes­halber von einer 160-Stunden-​Inzidenz des RKI, weil deren Werte um etwa fünf Prozent zu klein sind. Da 7 Tage 168 Stun­den haben und nach Abzug von 5% nur noch 160 bleiben.

[5] Meine R‑Werte waren glatter und reali­stischer. Warum das RKI diese Genauig­keit nicht über­bieten konnte, kann ich mir nur damit erklären, daß man in der Anfangs­hektik ein wenig reali­sti­sches Modell zusammen­gekloppt und später vor einer Verbes­serung oder Erset­zung Angst hatte. Und die ist berech­tigt, wenn man bedenkt, wie sensibel und gemein das deut­sche Volk jede Korrektur beob­achtet und verur­teilt.

[6] Und zwar mit echtem Fisch, keine ertränkten Schweine, auch keine Hühner, die zu Karpfen wurden, so wie Wein zu Blut. Jeden­falls erinnere ich mich, daß in meiner Kind­heit, da die Kühl­kette noch mit Wasser-, nicht Trocken­eis aufrecht erhalten werden mußte, am Palm­sonntag nord­deutsche Prote­stanten Last­wagen mit Fisch voll­stopften, nach dem süddeut­schen Katho­liken in der hei­ligen Woche der Sinn stand. Der Handel überwand schon immer Glaubes­grenzen und damals noch vorhandene Rassen­unter­schiede.

[7] Daß heute in der sächsischen Gesamtsumme 1000 Fälle fehlten, hat nichts damit zu tun. Ich erwähne es nur, weil ich lange suchen mußte, nachdem ich bemerkte, daß meine Addition der Länder um 1000 geringer ausfiel. Als ich die Diffe­renz fand, hatte das RKI seine Angaben bereits korr­igiert. Da ich auch bei mir Fehler suche, zog ich eine Sinnes­täu­schung in Betracht. Leider hatte ich nichts gespei­chert und muß Google loben. Dort standen noch 222.859 statt 223.859 für Sachsen im Cache. Da die tägliche Fallzahl von 1.595 von Anfang an stimmte, also eine innere Inkon­sistenz der Tabelle vorlag, darf ich annehmen, daß die Zahlen nicht auto­matisch einer Daten­quelle ent­nommen, sondern von Menschen abge­schrieben werden. Auch eine Plausi­bilitäts­prüfung scheint es nicht zu geben. Früher hätten Buch­halter die Neuner­probe gemacht. Das kann alles passieren. Man darf auch vergessen, die Aktua­lisie­rungs­zeit hochzu­setzen. Oder versteht das RKI darunter nur den gelegent­lich bis in die Mittags­stunden rei­chen­den Zeit­punkt, da der Vortages­bericht durch einen aktu­ellen ersetzt wird?

[8] Und für die mir in letzter Zeit nicht wegen ihrer Grund­auffas­ssung, sondern mit anhal­tenden merk­wür­digen Argu­menta­tionen und Spitz­findig­keiten auf den Sack gehenden Quer­denker: Ich weiß, daß durch die Endlich­keit der Deutschen jedes Wachstum ein Ende findet und es in jedem Falle auch wieder bergab gehen wird. Ich meine mit Berg einfach einen, der deut­lich hinter die Gesamt­popu­lation zurück­fällt.

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