99,9
Früher wurden Propaganda, Lügen, Verschwörungs­theorien und andere Geschmack­losig­keiten von Mund zu Mund, in Büchern und Trak­taten, in Zei­tungen, in der Kino-​Wochen­schau, in Radio und Fern­sehen ver­breitet. Heute vor allem über das Internet. Das paßt den Tätern vergan­gener Jahr­hun­derte nicht. Sie klagen über sog. Fake-News der anderen, schreiben sie aber trotzdem gerne ab und peppen sie auf, am liebsten durch blöde Über­schriften, die dazu verleiten sollen, einen sinn­leeren Artikel zu lesen.

So werden auch munter die falschen Zahlen des RKI nicht nur abge­schrieben und plump wieder­holt, sie werden auch effekt­haschend präsen­tiert. Heute mit 99,9 statt einer schlich­ten 100 aus dem Tages­bericht des RKI. Eigent­lich erwarte ich von den sich selbst Qualität­smedien nennen­den Repro­duktions­anstal­ten eigene Nach­for­schungen, eigene Berech­nungen. Warum sehe ich nir­gendwo eine ordent­liche Division: 87328 neu positiv Gete­stete im Verlaufe der vergan­genene Woche, geteilt durch 83,5 Mil­li­onen er­gibt 105, meinet­wegen auch 104,6 pcm pro Woche, nicht 100 und schon gar nicht effekt­ha­schen­de 99,9.

Viele Schreiberlinge [1] und Nachrichten­sprechende mögen wissen, daß die täglich raus­gehau­enen Wochen­zahlen sich nicht einfach aus einer Addi­tion der täglich neu positiv Gete­steten ergeben, sondern neben einer Glättung auch eine Rück­datie­rung [2] auf ein weit­gehend geschätz­tes Ansteckungs­datum erfolgt. Sie müßten aber irgend­wann einmal merken, daß im Mittel die gleichen Sieben­tage­inzi­denzen ent­stehen sollten, auf Roh­daten wie auf verscho­benen und geglät­teten.

Vor einem Jahr wieder­holte man bis zur Verga­sung, ein R-Wert von 1,03 bedeutete, daß 100 In­fi­zierte binnen vierer Tage 103 wei­tere anstecken. Später erklärte man dauernd, daß die Sieben­tage­inzi­denz besage, wie­viele von 100.000 Men­schen sich binnen einer Woche infi­zieren. Redlich­keit erfor­derte, dem Pub­likum gleich­falls einzu­bleuen: Die Sieben­tage­inzi­denz beruht auf den vom RKI geschätz­ten Infek­tionen der vergan­genen Woche. Sie liegen deshalb bis zu 10 Prozent niedriger als eine Berech­nung auf Basis der gemel­deten Fall­zahlen.

Und wenigstens einmal möchte ich von einem ordent­lichen Jour­nali­sten lesen: Infek­tions­datum hin, Test­berichts­datum her, wer neu positiv gete­stet wird, hat sich irgend­wann ange­steckt, weshalb mit beiden Datie­rungen im Mittel das gleiche heraus­kommen sollte. Trotzdem nennt das RKI vorzugs­weise stark nach unten abwei­chende Werte, die im Laufe der Zeit an der Öffent­lich­keit vorbei auf ein reali­sti­sches Niveau korri­giert werden. Wann kommt der Tag, an dem man sich von Modellen verab­schiedet, deren Ergeb­nisse derart tenden­ziös an der augen­schein­lichen Reali­tät vorbei­gehen.

Ein Tag ist kaum vergangen, und ich habe heute, am zweiten Sonntag Judika vor Ostern prompt einen Internet-​Abklatsch der Zeit gelesen, in dem die Zahlen des RKI tatsäch­lich leicht nach oben korri­giert werden, weil man aktu­elle Zahlen habe. Mög­licher­weise nahm man an, die zu geringen Zahlen des RKI seien nur veraltet oder unvoll­ständig. Es ist aber auch egal: Zur Zeit entwickelt sich die Zahl der positiv Gete­steten recht gleich­mäßig mit einem leicht stei­genden R-Faktor von 1,15 bis 1,18. Wenn ich einmal menschen­freundlich annehme, er verharre dort noch zwei Wochen, dann werden es zu Ostern 25.000 täglich sein.

Gestern meldete das RKI eine Sieben­tage­inzi­denz von 100, heute 104. Ich habe mit 108 wieder etwas mehr errechnet. Um sich aber nichts vorzu­machen: Das ist der Wert für Laetare bis gestern. Für heute (Woche vom letzten Don­ners­tag bis kom­men­den Mitt­woch) sind bereits 126 zu erwarten. Trotzdem werden die 200 zu Ostern wohl nicht erreicht. Aber egal, ob 99,9 oder 126, es ist einfach zuviel. Und den Trend lassen selbst Berech­nungen mit leich­ten Fehlern erkennen. Auch auf diesem Gebiet sind uns andere Länder voraus: Sie fälschen einfach die Grund­daten.

[1] Damit sind nicht nur Männer angesprochen, obwohl ich meine, die reine Bildung weib­licher Ablei­tungen (Schreiberin) wird auf Dauer nicht befrie­digen. Die jetzt noch männ­lichen Sammel­bezeich­nungen müssen ge­schlechts­los werden und sind ggf. einer männ­lichen Ablei­tung (Schreiber­ling) zu unter­werfen. Bleibt nur noch das R zu ver­nichten oder seine Herkunft zu vergessen.
[2] Die täglich gemeldeten Fallzahlen mögen nicht der Realität entspre­chen, beruhen aber auf einer Addition gemel­deter Daten, daß eine Rundung der letzten Stellen Verwir­rung stiften würde. Jeder weiß, daß es auch tausend mehr oder weniger sein könnten. Die geglät­teten und rück­datier­ten Zahlen aber eben­falls bis in die Einer­stelle raus­zuhauen, sugge­riert eine nicht vorhan­dene Genauig­keit und ist deshalb unredlich. Und warum werden berech­nete Nach­komma­stellen auf ganze Men­schen gerundet?

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