Sonne, Halbmond, Sterne
Der Anfang des Monates November ist voll von Gedenktagen. Heute hat um 11 Uhr 11 die Kampagne begonnen. Und im Schutze der Dunkel­heit wird es wieder zu Martins-Umzügen kommen. Schon in den letzten Tagen sah ich Kinder mit Batterie, Laterne und Mutter. Einige trugen ein Kopftuch. Offensichtlich eine multi­kulturelle Ange­legenheit, die glück­licher­weise an mir vorüber­geht. Ich muß keine Batterien mehr kaufen, keine elektri­schen Leitungen reparieren, keinem Pferd hinterher­latschen und auch keine Martins­lieder mehr im Gottes­dienst spielen.

Es scheint aber genügend Deutsche zu geben, die in ihrer Angst, ihrem voraus­eilenden Gehorsam und dem von Henryk Broder erkannten Bedürfnis, an den Moslems gutzu­machen, was sie an den Juden verbrochen haben, eine religions­neutrale Umbe­nennung vorschlagen, etwa in Sonne-Mond-Sterne-Fest. In zehn Jahren ist es dann der Halbmond, in zwanzig der fünf­zackige Stern.

Ich bin Nordeutscher und habe als Kind an Laternen­umzügen teil­genommen. Von St. Martin hörte ich erst viele Jahre später. Inzwischen sind Jahrzehnte verstrichen, in denen auch kleine Katho­liken mit einfachen Laternen­umzügen glücklich gewesen wären. Das hätte ihnen den lang­weiligen Gottes­dienst erspart. Doch besonders für die katho­lische Kirche gilt: Statt selbst zu verzichten, soll wieder einmal anderen gegeben werden, was sie gar nicht wollen.

[1] Sollte das Sankt-Martins-Fest umbenannt werden? Das sagen die Deutschen. Spiegel Online, 11.11.2017

Es reicht

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Oktoberrevolution
Heute wird man in unserem Teil der Google-​Welt mit einem thai­län­di­schen Gericht namens Phat Thai kon­fron­tiert, zu dem ich nicht heraus­fin­den konnte, warum es nicht auch an einem ande­ren Tag hätte ver­wur­stelt wer­den kön­nen. War es ein 7. No­vem­ber, an dem es zur Ver­wer­tung von Reis­resten zum thai­län­di­schen Nati­onal­ge­richt er­klärt wurde? Nor­maler­weise beachte ich die Google-​Doodle nicht, doch heute hatte ich mit der Okto­ber­revo­lu­tion gerech­net. Man mag zu ihr ste­hen wie man will, es sind nun ein­mal 100 Jahre. Und für ewig blei­ben wird die Rand­bemer­kung, daß sie im Novem­ber statt­fand. Wir oder zumin­dest einige von uns feiern sie am 7. No­vem­ber, weil sie an diesem Tage des Jah­res 1917 die Dik­ta­tur des Pro­leta­riats in Ruß­land ein­läu­tete.

Und obwohl Lenin nur wenige Monate später den grego­riani­schen Kalen­der auch in Ruß­land ein­führte, lei­tet sich der Name Okto­ber­re­volu­tion von ihrem julia­nischen Datum 25.10.1917 ab. Man mag darin eine Dif­fe­renz von 13 Tagen sehen, genau genom­men ist es aber der glei­che Tag, der grego­ria­nisch um 13 Tage höher bezeich­net wird. [1] Und nun höre ich schon die Ge­schichts­kundi­gen, die um Papst Gre­gor XIII wissen, der im Jahre 1582 auf Don­ners­tag, den 04.10. Frei­tag, den 15.10. fol­gen ließ, was nur 10 Tage mehr sind. Doch bis zur Okto­ber­revo­lu­tion war grego­ria­nisch bereits der 29. Fe­bruar der Jahre 1700, 1800 und 1900 ent­fallen.

Das führt mich auf die all­gemeine Frage, wann denn Jah­res­tage zu fei­ern sind. Ge­wiß nicht nach 12 Mo­na­ten zu 29 bzw. 30 Tagen. [2] Eher dann, wenn sich mög­lichst ohne zwi­schen­lie­gende Reform in einem Solar­kalen­der das Datum wie­der­holt, also Tages- und Monats­zahl gleich sind. [3] Wir haben 500 Jahre Refor­ma­tion wie immer zu Hallo­ween am 31. Ok­to­ber gefei­ert, nicht am 10. No­vem­ber, weil wir den abend­ländi­schen Kalen­der mit seinen im Okto­ber 1582 feh­len­den 10 Tagen ver­wen­den, zumal Histo­riker sich mehr für ein for­ma­les, oft­mals regio­na­les Datum inter­es­sie­ren als für genaue Zeit­spannen.

[1] Es ist im Prinzip wie mit dem Über­gang zur Sommer­zeit. Am letz­ten Sonn­tag im März wird 2 Uhr MEZ durch 3 OEZ ersetzt. Man könnte meinen, es fehle eine Stunde bis zur Tages­schau, doch in Wirk­lich­keit wird sie nur eine Stunde früher ge­sendet.
[2] Nach dem islamischen Kalender fällt die Okto­ber­revo­lu­tion auf den 21. Mu­har­ram 1336. Die Mos­lems hätten 100 Jah­re also am 21.01.1436 AH, dem 15. No­vem­ber 2014 fei­ern können.
[3] Wer am 29. Fe­bru­ar gebo­ren wurde, feiert in Normal­jahren juri­stisch korrekt am 1. März. Wie aber steht es um den 30. Dhu l-Hidd­scha oder den dop­pel­ten Adar?

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Dagen-H
Über die 500 Jahre Refor­mation habe ich die 50 Jahre Dagen-H übersehen. Am 3. September des Jahres 1967 stand in Schweden für zehn Minuten der Verkehr still, damit alle von der linken Seite auf die rechte (H wie höger) wechseln konnten. In den Folge­tagen gab es keine Verkehrs­toten und weniger Unfälle, doch normali­sierte sich das bald, denn der Mensch wechselt schnell die Seite. Beein­druckender ist der Aufwand im Vorfeld. Ampeln waren zu instal­lieren, Verkehrs­zeichen neu zu plazieren, Auto­scheinwerfer einzustellen. Polizisten hatten zuvor Rechts­verkehr geübt, Busse erhielten Türen auf der rechten Seite oder wurden in britische Kolonien verkauft.

Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, daß nur noch wenige Länder Links­verkehr betreiben. Neben Groß­britanien im wesent­lichen noch Australien, Indien und Teile Süd- und West­afrikas. Und natürlich ein kleines Gebiet der USA, die amerika­nischen Jungfern­inseln, obgleich die Genfer Verein­barung landes­weite Einheit­lichkeit vorsieht.

Eine kurze Wieder­holung der vermuteten geschicht­lichen Entwicklung: Die meisten Menschen sind Rechts­händer. Das Schwert steckte links in seiner Scheide, um rechts zuschlagen zu können. Und so ist es besser, den anderen, in dem damals noch der schlechtere vermutet werden durfte, rechts vorbei­ziehen zu lassen. Außerdem kann man links von Schwert und Gegen­verkehr unbehindert auf sein Pferd steigen. So gesehen ist der rechts­händige Mensch für den Links­verkehr gemacht. [1]

In dieser frühen und von Sexismus freien Zeit schlackerte der Mann nicht mit seinem Schwert den Frauen zwischen den Beinen. Er ging links und möglichst auf der rechten Straßen­seite, um das schwache Geschlecht vor dem Straßen­verkehr zu schützen, der nicht erst in der Neuzeit gefährlich wurde, weshalb auch das gemeine Fußvolk schon damals gegen die Fahrt­richtung, also auf der rechten Seite lief. [2]

Mit der franzö­sischen Revo­lution mußten sich alle der Mehrheit anpassen und nicht nur rechts laufen, sondern auch fahren. Das kam dem Links­händer Napoleon gelegen, der den Rechts­verkehr auf weite Teile Europas ausdehnte, auf England aber leider nicht. Den kontinen­talen Rest erledigte dann Adolf Hitler.

Das metrische System war den Ameri­kanern zu franzö­sisch, der Rechts­verkehr offen­sichtlich nicht, denn auf dem Weg gen Westen saßen die Rechts­händer auf dem linken Pferd oder links auf dem Kutsch­bock, um die Peitsche rechts führen zu können. Gegen­verkehr von links war dann angenehmer.

Nun gibt es heute nur noch wenige Kutschen, doch das Lenkrad weiterhin Richtung Straßen­mitte. Das mag einem wie Gewohnheit vorkommen, doch Irland machte mir klar, daß es besser ist. Wenn man auf einer engen irischen Straße links eine Steinmauer hat und rechts ein Lastwagen entgegen­kommt, dann ist man für die Rechts­lenkung des Miet­wagens dankbar. Mir hat das Spaß gemacht.

Auch wenn die Freude an der Anders­artikeit dann wegfiele, ist eine weltweite Verein­heit­lichung von Vorteil. Und so regelt die Genfer Verein­barung auch viele Details des Straßen­verkehrs. Insbe­sondere muß jedes Fahrzeug einen Führer haben. Wahrschein­lich darf das in Zukunft auch ein Computer sein. Und der vertauscht spielend die Seiten. So befördert der Fort­schritt das Überleben der Anders­artikeit, die kul­turelle Vielfalt, die Buntig­keit der Welt.

Könnte man kosten­frei alles auf einen Schlag verein­heitlichen, wäre der Links­verkehr von Vorteil, weil er weniger Unfälle produziert. Das ist wohl nicht dem links­händigen Schalt­knüppel zu verdanken, nicht der Rechts­füßigkeit, da das Gaspedal immer rechts ist, und auch nicht der Fahrer­tür, die zur Straßen­mitte zeigen sollte. [3] Eher liegt es daran, daß der Mensch immer noch die Zügel in der rechten Hand von links auf sein Pferd steigt. Und im Links­verkehr hat der Fahrrad­fahrer den Bürger­steig links. [4]

Meiner Meinung nach darf es einem Menschen durchaus zugemutet werden, links und rechts zu vertauschen. Man sollte auch Buch­rücken lesen können, die von unten nach oben beschriftet sind, und wissen, daß im Regal die Seiten­nummern von rechts nach links laufen, weshalb der Bücher­wurm sich vom Beginn bis zum Ende eines Lexikon den ersten und den letzten Band sparen kann. Viel­leicht würden Schrift­setzer gespie­gelt von rechts nach links lesen, wenn es wegen der Gravi­tation nicht besser wäre von unten nach oben zu setzen, also auf dem Kopf von links nach rechts zu lesen.

Weniger zufrieden mit der Links-Rechts-Vertau­schung bin ich aber, wenn jeder meint, selbst entscheiden zu können, welche Straßen­seite er heute benutzt und weder rechts vor links noch keep left beachtet, sondern auf sein dickeres Auto oder sein höheres Kasten­zeichen vertraut. Ich bin ein Freund der Verein­heit­lichung, der Stan­dardi­sierung, der Normierung, der Klarheit, der Gleich­behandlung, der Gerech­tigkeit, ein Anhänger von Regel und Ausnahme, von Normalität und Abweichung.

Und wenn es um Abweich­ungen und Rück­ständig­keiten geht, dann fällt immer wieder ein Band von Ost nach West auf. Zumeist dabei sind die Staaten von Arabien über Indien bis Indo­nesien. Durch Afrika zieht es sich entlang des Mittel­meeres oder über die Ostküste. Im Westen strahlt es gerne in die USA aus, und im Osten nach Australien, China oder Japan. Manchmal sind nur kläg­liche Reste geblieben wie beim Links­verkehr oder dem metri­schen System. Aber es gibt ja auch noch Stromnetze, Monarchien, Todesstrafe, lateinische Schrift, Kalender, Alphabeti­sierung und vieles andere mehr.

[1] Das ist kein Othering des Links­händers, er ist auch kein gesell­schaft­liches Konstrukt. Es ist eine Asym­metrie, denn auch der links­händige Tisch­tennis­spieler bevorzugt rechts­händige Gegner.
[2] Die rechte Seite für Frauen oder Höher­gestellte könnte man über­denken. Immer mehr schwert­lose Männer haben gerne den rechten Schlagarm frei.
[3] Für die Schweden war der Rechtsverkehr sicherer, da ihre Autos vorwiegend links gelenkt wurden.
[4] Es gibt Scheren für Links­händer. Doch warum haben Fahrräder die Kette immer rechts und den Lenker vorne?

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Reformationstag
Die fünfte Hundertjahrfeier des Thesen­anschla­ges durch Mar­tin Luther ist aus­nahms­weise für alle arbeits­frei, und schon ist wie­der zu lesen, was unsere Wirt­schaft dadurch ver­liert. In der Ver­gan­gen­heit hat es mich etwas geär­gert, daß der Buß- und Bet­tag für alle Chri­sten außer­halb Sach­sens gestri­chen wurde, wäh­rend die Katho­liken und voran die Bayern ihre Feier­tage behiel­ten, und man sich jedes Jahr fragen muß, was an Fron­leich­nam eigent­lich gefei­ert wird.

Zwischenzeitlich bin ich wie die christ­lichen Kir­chen in Deutsch­land eben­falls gegen die Wieder­ein­füh­rung von christ­lichen Feier­tagen, die von der Bevöl­ke­rung so und so nur als arbeits­frei gese­hen werden. Und der Refor­ma­tions­tag für alle wäre nur eine Hei­lig­spre­chung von Hallo­ween, dem heid­ni­schen Vor­abend von Aller­hei­li­gen, was als Feier­tag so über­flüs­sig ist wie Fron­leich­nam und Hei­lige Drei Könige.

Außerdem ist die Strei­chung christ­li­cher Feier­tage das beste Mit­tel gegen die Ein­füh­rung heid­ni­scher Gedenk­tage. Gerne kann jeder mehr­fach im Jahr einen Baum umar­men oder nach einem pri­vaten Mond­kalen­der den Geburts­tag des Pro­phe­ten fei­ern. Sol­che Begehr­lich­kei­ten las­sen sich leicht abweh­ren, wenn man die eige­nen Pri­vile­gien zurück­nimmt: Weni­ger christ­li­che Feier­tage, kein Reli­gions­unter­richt an Schu­len, keine Theo­lo­gie an staat­li­chen Uni­ver­si­täten.

Wenn ich es recht bedenke, kön­nen auch die Weih­nachts­feier­tage, Pfingst- und Oster­mon­tag, Himmel­fahrt, Kar­frei­tag sowie der Tag der Deut­schen Ein­heit ent­fal­len, wenn die Arbeit­ge­ber dies finan­ziell aus­glei­chen, wie sie auch die Sachsen für ihren Buß- und Bet­tag zur Kasse gebe­ten haben. Blei­ben kön­nen neben dem Kampf­tag der Arbei­ter­klasse der Beginn des neuen Jah­res und die Feier­tage am Sonn­tag, auch wenn eines Tages kaum einer mehr weiß, woran sie uns erin­nern sollen.

Am 31. Ok­to­ber 2017 feierten wir den 500. Jah­res­tag des The­sen­an­schla­ges durch Martin Luther, obgleich er am 10. No­vem­ber 1517 statt­fand. Pro­lep­tisch, denn es gab damals noch kei­nen gre­goria­ni­schen Kalen­der. Histo­ri­kern sind for­male Be­zeichnun­gen wich­tiger als wahre Jah­res­län­gen oder tages­ge­naue Zeit­span­nen. Doch etwas Strafe muß sein. Sie sind sich nicht einig. Manch­mal sehen sie den Wechsel zum gre­goria­ni­schen Kalen­der im Jah­re 1582, dann erst mit der länder­spezi­fi­schen Über­nahme. Sinn­voll wäre, grund­sätz­lich alle Datums­anga­ben anzu­pas­sen, denn für andere Kalen­der frem­der Völker und Reli­gio­nen muß man ja auch um­rechnen.

Schalttag | Oktoberrevolution | Buß- und Bettag | Fronleichnam | Karfreitag

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Sawsan Chebli
Ich finde Jan Böhmermann nicht besonders lustig und habe trotzdem eine Sendung verfolgt. Nach einem lang­weilgen Dialog mit Zini dem Wuslon der Achtziger Jahre und vor dem öden Sprech­gesang gegen Ende in der Mitte ein Gespräch mit Sawsan Chebli von der Berliner SPD, die sagt, sie werde für jung und schön gehalten, womit sie den eigent­lichen Grund für die Einladung ausge­plaudert hat. Dabei sei sie sogar älter als Christian Lindner oder gar Jens Spahn. Hart an der Grenze des Face-Shaming! Auch das Zini sah sehr alt aus, ist aber jünger alle alle drei.

Und wie das Leben so spielt, fällt sie mir wenige Tage später erneut auf: Ein Veran­staltungs­leiter erkennt sie nicht und überspielt seine Verlegen­heit mit der Bemerkung, er habe keine so junge und schöne Frau erwartet. Sie nimmt es nicht als erneute Werbung, nicht als Kompliment, sondern als sexistische Bemerkung, sagt es aber nicht, heuchelt das Gegenteil, gibt so dem armen Mann keine Gelegenheit zur Entschul­digung und tritt alles im Nachgang in der Presse breit.

Sie wollte nur eine Diskussion anstoßen, obgleich die schon längst losgetreten ist. Um von ihr zu profitieren, hat Frau Chebli wohl lange nach einem weißen und männlichen sexisti­schen Furz gesucht. Und um erneut die Verbindung von Rassismus und Sexismus zu schaffen, an der viele sich gerne abarbeiten: Vielleicht würde sie in ihrer palästi­nensischen Großfamile, zumindest aber in deren Umkreis fündiger? Oder sind alle bereits voll integriert, frei von Rassismus, Sexismus und Face-Shaming? Dann wäre es Zeit für die Eindeut­schung des Namens in Schäbli.

[1] Ferda Ataman: "Tragen Sie doch eine Burka". Spiegel Online, 21.10.2017.
[2] Jost Müller-Neuhof: Ein Staatsamt eignet sich nicht für politische Kampagnen. Der Tagesspiegel, 23.10.2107.
[3] Katja Thorwarth: Wie Sexismus im Alltag funktioniert. Frankfurter Rundschau, 16.10.2017.
[4] Martin Niewendick: Sexismus-Vorfall: DIG wirft Chebli Ungereimtheiten vor. Berliner Morgenpost, 16.10.2017

Me2weihnacht | Mimosen

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Biafra, Katalonien, Bayern
Wir steuern auf ein Zeitalter unstrukt­urierter Klein­teiligkeit zu. Das verdanken wir der Automati­sierung und einer Unzahl von Menschen mit freien Kapazi­täten. Mein geliebtes Schubladen­denken ist auf dem Rückzug. Kategorien werden gemieden und geleugnet. Statt großer Rassen gibt es nur noch hunderte von Volks­gruppen, deren Sprache und Kultur es zu bewahren gilt, obgleich es für die menschliche Entwicklung recht gleich­gültig ist, ob es sie jemals gegeben hat. Was würde die Menschheit missen, wäre Goethe nie geboren worden?

Ich kann mir gerade einmal die fünf Kontinente merken. Hunderte von Staaten und Gebiete sind mir zuviel, vor allem die ständige Übernahme von Eigen­bezeichnungen. Demnächst dank Unicode auch noch in fremden Zeichen. In meiner Jugend gab es große Blöcke. Ich dachte, die Klein­staaterei sei ebenso überwunden wie die Täto­wierungen. Doch der moderne Mensch ist unsolidarisch, pflegt seinen Style, seine Musik, seine Sprach­verhunzung, sein Arschgeweih. Damit setzt er sich von der Masse ab und formiert sich zu Klein­gruppen gleicher Abartigkeit.

Die Zerschlagung des Ostblockes erbrachte viele Staaten und uns deren Probleme. Hinzu kommen die ständigen Befreiungs­bewegungen und Unabhängig­keits­bestrebungen. In den sechziger Jahren dachte ich dank der üppigen Bericht­erstattung, Che Guevara führe einen Befreiungs­kampf. Ein solcher galt Linken stets als gerecht­fertigt. Doch Biafra ließ mich erstmals zweifeln. Dort wollten sich arme Ibo von noch ärmeren Haussa absetzen. Im Ergebnis wären unterdrückte Minder­heiten entstanden, die beständig in die Waden beißen, weil sie anderswo die Mehrheit stellen.

Mit den Katalanen ist es nicht anders. Sie wollen kein Geld an Spanien abgeben und einen eigenen Staat, in dem die spanische Bevöl­kerung und deren Welt­sprache zurück­gedrängt werden. Eine einver­nehmliche Abstimmung in harmoni­scher Atmo­sphäre hätte mit 49 Prozent alles beenden können. Doch anfäng­liches Zuwarten und spätere Härte führten zu 95 Prozent Zustimmung unter den 42 Prozent, die eine Wahlurne erreichten. Es ist nicht davon auszugehen, daß die übrigen zu 80 Prozent dagegen gestimmt hätten.

Damit ist die Unabhängigkeit praktisch besiegelt. Der spanische König hätte gut daran getan, den Abtrünnunen viel Glück in ihrer Republik zu wünschen. Noch besser hätte er abgedankt und ganz Spanien vom Anachro­nismus der Monarchie befreit. Vielleicht schaffen es ja die anderen Abtrünnigen auf den britischen Inseln, wenn Elisabeth stirbt. Sollte aus der EU einmal etwas werden, dann ist es ziemlich egal, ob es einen Staat mehr oder weniger gibt. Ich könnte mit Bayern in einer funktio­nierenden EU gut leben.



Das hatte ich vor mehr als einer Woche notiert. Zwischen­zeitlich haben sich die Fronten vehärtet. Die Welt entsendet keine Blauhelme und steht pflicht­gemäß hinter Spanien, das nach einer Phase der Gesichts­wahrung Katalonien in die Unabhän­gigkeit entlassen kann oder sich auf lange Zeit Konflikte mit einer Region einhandelt, die irgendwann die Gelegenheit ergreifen wird, sich von der Monarchie, dem Zwangs­katholi­zismus, der Arbeits­losigkeit, den Transfer­leistungen, der Vergreisung und den mit der spanischen Sprache einher­gehenden Altlasten zu befreien.

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AfD
Deutschland hat östlich seiner geogra­phischen Mitte ein deutliches Geschwür, die AfD-Hochburg in Sachsen. Es strahlt in die ganze Zone aus, aber auch ins katho­lische Fulda, nach Bayern und selbst Baden-Württem­berg. Beschwerde­frei sind im wesentlichen nur das Rhein-Main-Gebiet, das Ruhrgebiet und Nord­deutschland, wo Hühner nicht Hennen heißen [1], Ausländer ihr Schul­deutsch wieder­erkennen und der Blick weit ist.

Gerne wird anhand der Wähler­schichten versucht, die Ursachen für den AfD-Erfolg zu ermitteln. Für mich ist es recht einfach. Jeder fünf­zehnte Normal-Bürger nutzte die Gelegen­heit, bei der Wahl geheim und ohne die Gefahr einer Belehrung der verordneten Willkommen­skultur zu wider­sprechen. In der DDR war Inter­nationa­lismus verordnet, weshalb es dort nach 30 Jahren immer noch eine tief verwurzelte Ausländer­feind­lichkeit gibt. Die kommt noch oben drauf.

Die SPD kümmert sich um Beamte und Angestellte, vor allem Lehrer. Sie hat die Arbeiter­klasse verraten. Die ist nicht fein genug. Arbeiter fahren nicht mit dem Auto zwischen Eigenheim, Büro, Theater und Lieblings-Italiener hin und her, sondern mit Bussen und Bahnen durch die wahre Welt, in der zwar gerne geklagt und geschimpft wird, direkte Belei­digungen aber nur selten vorkommen und manchmal das Wort Nazi enthalten.

Arbeiter zu sein allein reicht nicht für die AfD. Man sollte dazu eine dieser drei Voraus­setzungen erfüllen: Zum einen von Natur aus rechts­radikal sein, zum anderen in der Tradition der Ossis stehen oder zum dritten um beschei­denen Wohlstand fürchten. Das erklärt, warum das Geschwür nach Bayern und Baden-Württem­berg ausstrahlt, wo auch der einfache Mann zumindest meint, etwas Besseres zu sein. Und glückliche­rweise erklärt es auch, warum meine Heimat­stadt mit hoher Arbeits­losigkeit nicht über den Bundes­durch­schnitt kommt. Sie liegt an der Nordsee.

[1] König, Werner: dtv-Atlas zur deutschen Sprache. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2. Auflage, 1978. Seite 217.

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