Biafra, Katalonien, Bayern
Wir steuern auf ein Zeitalter unstrukt­urierter Klein­teiligkeit zu. Das verdanken wir der Automati­sierung und einer Unzahl von Menschen mit freien Kapazi­täten. Mein geliebtes Schubladen­denken ist auf dem Rückzug. Kategorien werden gemieden und geleugnet. Statt großer Rassen gibt es nur noch hunderte von Volks­gruppen, deren Sprache und Kultur es zu bewahren gilt, obgleich es für die menschliche Entwicklung recht gleich­gültig ist, ob es sie jemals gegeben hat. Was würde die Menschheit missen, wäre Goethe nie geboren worden?

Ich kann mir gerade einmal die fünf Kontinente merken. Hunderte von Staaten und Gebiete sind mir zuviel, vor allem die ständige Übernahme von Eigen­bezeichnungen. Demnächst dank Unicode auch noch in fremden Zeichen. In meiner Jugend gab es große Blöcke. Ich dachte, die Klein­staaterei sei ebenso überwunden wie die Täto­wierungen. Doch der moderne Mensch ist unsolidarisch, pflegt seinen Style, seine Musik, seine Sprach­verhunzung, sein Arschgeweih. Damit setzt er sich von der Masse ab und formiert sich zu Klein­gruppen gleicher Abartigkeit.

Die Zerschlagung des Ostblockes erbrachte viele Staaten und uns deren Probleme. Hinzu kommen die ständigen Befreiungs­bewegungen und Unabhängig­keits­bestrebungen. In den sechziger Jahren dachte ich dank der üppigen Bericht­erstattung, Che Guevara führe einen Befreiungs­kampf. Ein solcher galt Linken stets als gerecht­fertigt. Doch Biafra ließ mich erstmals zweifeln. Dort wollten sich arme Ibo von noch ärmeren Haussa absetzen. Im Ergebnis wären unterdrückte Minder­heiten entstanden, die beständig in die Waden beißen, weil sie anderswo die Mehrheit stellen.

Mit den Katalanen ist es nicht anders. Sie wollen kein Geld an Spanien abgeben und einen eigenen Staat, in dem die spanische Bevöl­kerung und deren Welt­sprache zurück­gedrängt werden. Eine einver­nehmliche Abstimmung in harmoni­scher Atmo­sphäre hätte mit 49 Prozent alles beenden können. Doch anfäng­liches Zuwarten und spätere Härte führten zu 95 Prozent Zustimmung unter den 42 Prozent, die eine Wahlurne erreichten. Es ist nicht davon auszugehen, daß die übrigen zu 80 Prozent dagegen gestimmt hätten.

Damit ist die Unabhängigkeit praktisch besiegelt. Der spanische König hätte gut daran getan, den Abtrünnunen viel Glück in ihrer Republik zu wünschen. Noch besser hätte er abgedankt und ganz Spanien vom Anachro­nismus der Monarchie befreit. Vielleicht schaffen es ja die anderen Abtrünnigen auf den britischen Inseln, wenn Elisabeth stirbt. Sollte aus der EU einmal etwas werden, dann ist es ziemlich egal, ob es einen Staat mehr oder weniger gibt. Ich könnte mit Bayern in einer funktio­nierenden EU gut leben.



Das hatte ich vor mehr als einer Woche notiert. Zwischen­zeitlich haben sich die Fronten vehärtet. Die Welt entsendet keine Blauhelme und steht pflicht­gemäß hinter Spanien, das nach einer Phase der Gesichts­wahrung Katalonien in die Unabhän­gigkeit entlassen kann oder sich auf lange Zeit Konflikte mit einer Region einhandelt, die irgendwann die Gelegenheit ergreifen wird, sich von der Monarchie, dem Zwangs­katholi­zismus, der Arbeits­losigkeit, den Transfer­leistungen, der Vergreisung und den mit der spanischen Sprache einher­gehenden Altlasten zu befreien.

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