Unredlichkeit
Die berühmte exponen­tielle Entwick­lung kommt in der Natur vor allem fallend, also in der Form

y = aeλx = aex = a⋅2x/h = abx = a⋅(1−z)x   (a,λ>0)

mit der Zerfalls­konstanten λ vor. Das Parade­beispiel ist der radio­aktive Zerfall, in dem x für die Zeit steht. Jedes noch nicht zerfal­lene Teil­chen kann mit einer weiteren Lebens­zeit von τ=1/λ rechnen. Inner­halb dieser Spanne redu­ziert sich ihre Anzahl um den Faktor e auf einen Anteil von 1/e≈0,36788, also auf etwa ein Drittel. Eine Halbie­rung findet in der Halb­werts­zeit h=τ⋅ln2≈0,69⋅τ statt. Sind x und λ dimenen­sionslos, so kann man b=1/e^λ bilden. Das ist der Faktor, mit dem sich y von Schritt zu Schritt (Δx=1) ändert. Er unter­schrei­tet 1 um den rela­tiven Verlust z=1-b.

Theoretisch gibt es auch das exponen­tielle Wachstum, in der Praxis zumeist nur nähe­rungs­weise oder für eine kurze Zeit.

y = a⋅eλx = a⋅ex = a⋅2x/d = abx = a⋅(1+z)x   (a,λ>0)

Jetzt ist λ die Wachstums­konstante. An die Stelle der Halb­werts­zeit tritt die Verdop­pelungs­zeit d=ln2/λ≈0,69/λ. Für τ=1/λ fällt mir keine griffige allge­meine Bezeich­nung ein. Ist jedoch y eine mit der Zeit x wachsende Menge neu erschaf­fener Objekte, so wäre τ deren durch­schnitt­liches Alter. Es ist die Zeit­spannne, in der ein Wachstum um den Faktor e eintritt. Ist x dimen­sionslos, kann man wieder einen Faktor b=e^λ bilden, der das Wachstum inner­halb eines Schrittes beschreibt. Diesmal ist z=b−1 die zuge­hörige relative Zunahme.

Im weniger realen Leben der Schule kommt auch ein sehr lang­atmiges exponen­tielles Wachstum vor. Gerne in der Aufgabe: Hätte Jesus einen Euro zur Bank gebracht, der jähr­lich mit 3 Pro­zent verzinst worden wäre, wieviel Geld hätte er heute? Nehmen wir an, er hätte den Euro vor genau x=2000 Jahren einge­zahlt. Bei einem Zins­satz z=0,03 pro Jahr wäre er bei viertel­jährlicher Verzin­sung dank einer Verdop­pelungs­zeit von 23 Jahren heute stolzer Besitzer von (1+0,03/4)^(2000⋅4), etwa 91 Quadril­lionen Euro und könnte jeden Rettungs­schirm aufspannen.

Für die kleine Virologenschule geeignet wäre auch die folgende Aufgabe: Am 6. April waren 99.225 Personen infiziert, am 27. März 42.547 und am 28. März 48.582. Bestimmen Sie die Verdoppelungszeit d auf einen halben Tag genau unter der Annahme einer exponentiellen Entwicklung. Nehmen Sie weiterhin an, jeder am Tag t neu Infizierte würde genau am Tage t+Δt weitere R₀=1,5 Personen infizieren. Wie lang ist diese Inkuba­tions­zeit Δt? Antwort: Die Verdop­pelungs­zeit beträgt d=9,5 Tage. In Δt Tagen tritt ein Wachstum von 1,5=R₀=2^(Δt/d) ein. Daraus ergibt sich eine Inkuba­tions­zeit von Δt=5,5 Tagen.

Stimmt also, was uns heute erzählt wurde? Liegt der berühmte R₀‑Faktor tatsäch­lich wie behauptet zwischen 1,2 und 1,5? Ist die Inku­bations­zeit wegen d=9,5 wirklich nur 2,5 bis 5,5 Tage? Oder ist sie länger und der R₀‑Faktor entspre­chend höher? Werden wir am Oster­sonntag 165.000 Infi­zierte haben, die auf Oster­montag um mehr als 11.000 anwachsen? Nein! Alles Quatsch! Von Instituts­leitern nach­geplap­perte Pseudo­analyse! Doch warum stimmt das nicht, was ist falsch an der oben­stehenden Rech­nung? Ganz einfach! Es liegt keine exponen­tielle Entwick­lung vor, noch nicht einmal nähe­rungs­weise für einen angemes­senen Zeit­raum! Die Rechnung ist nicht falsch, ihre Voraus­setzungen model­lieren einfach nicht die Realität!

Wenn es keine Lügen sind, dann unermeß­liche Unfähig­keit. Anderes erwarte ich auch gar nicht von den meisten Experten, die sicher­lich gute Viro­logen, Mikro­bilogen und Medi­ziner sind, sei es für Mensch oder Tier. In ihrer Welt kommen ordent­liche Stati­stiken kaum vor, sie haben Medizin studiert, um den Menschen zu helfen und das Rechnen zu vermeiden. Gleich den Geistes­wissen­schaft­lern haben sie sich durch die Prüfungen zur Stati­stik gequält. Aber sie fertigen Studie um Studie auf Basis magerer Zahlen an. Ihre öffentlichen Äußerungen sind weit von Six-Sigma entfernt.

Ich halte es für wissenschaftlich unredlich, eine Verdop­pelungs­zeit von 9,5 Tagen zum Anlaß für die Behaup­tung zu nehmen, wir seien noch nicht über den Berg und der R₀‑Faktor nicht unter 1,2. Ganz häß­lich ist es, sich auf Sterbe­raten raus­zureden. Die werden nach Ostern fallen, wie es die Neuin­fekti­onen schon seit einer Woche tun. Gar nicht ausstehen kann ich das Gefasel von der Verdop­pelungs­zeit, die bis zu Ostern selbst dann nicht über 16 Tage steigen kann, wenn sich über­haupt keiner mehr ansteckt. Es ist unan­ständig, die Verdop­pelungs­zeit einer nicht gege­benen exponen­tiellen Entwick­lung gleich­zusetzen mit der Anzahl von Tagen in die Vergan­genheit, da nur die Hälfte infiziert war.

Was ist das Motiv, jetzt gegen Ende der Epidemie die Verdop­pelungs­zeit zu betonen? Ich unter­stelle einfach, daß die Politik aus heutiger Sicht die derzei­tigen Maßnahmen nicht vor Führers Geburtstag lockern und die Bevöl­kerung auf eine Fort­setzung einstimmen oder vorbe­reiten möchte. Da ist es natür­lich günstig einen R₀‑Faktor deutlich über 1 zu postu­lieren und Verdop­pelungs­zeiten unterhalb von zwei Wochen in den Raum zu stellen. Denn eines haben die Menschen von Leuten wie Herrn Lanz gelernt: Heute 100.000, in zwei Wochen 200.000 und in einem halben Jahr 8 Mil­lionen. Viel­leicht ist es entgegen meiner Kritik aber richtig, von einem Monster im See zu erzählen, damit die kleinen Kinder nicht ertrinken.

Disziplinlosigkeit | Virologenschnack | Prognose | Lebenswert | Ethikraten | Herdenimmunität | Reproduktion | Tote | Rattenschwanz | Unredlichkeit | Nationalstaaten | Förderalismus | Unterleben | Zweite Welle

... link (32 Kommentare)   ... comment