Apriori
Schön am Leben eines alternden Bloggers ist, anhand aktueller Ereignisse und Diskus­sionen immer wieder an Details aus jungen Jahren erinnert zu werden, die nicht auf der Müll­halde aus Belang­losig­keiten vergessen wurden. Dazu gehört auch eine Begrün­dung der Apriori-Wahr­schein­lich­keit abseits philo­sophi­schen Geschwa­fels: Wenn man von einer Wahr­schein­lich­keit im engeren Sinne nicht sprechen kann, weil sie nicht durch eine Annahme oder zwin­gende Eigen­schaft bestimmt ist und auch nicht durch ständige Wieder­holung (a poste­riori) immer genauer bestimmt werden kann, so darf man dennoch sagen, daß irgendein Ereignis mit einer gewissen Wahr­schein­lich­keit (a priori) eintritt. [1]

Je nach Umstand, Geschmack, Etikette, Verblendung, Wunsch­denken, aber auch gemäß ihrer Entfer­nung von einer reali­stischen Einschät­zung wird eine Apriori-Wahr­schein­lich­keits-Behaup­tung empört als dumpfes Vorur­teil abge­lehnt oder still­schwei­gend ohne jedes Wimpern­zucken akzep­tiert. Wenn der Wetter­frosch im Fern­sehen behauptet, es regne morgen mit einer Wahr­schein­lich­keit von 70 Pro­zent, dann nehmen wir es ihm ab, ohne sofort einen Facebook-Beitrag abzu­lassen: Du Spast, es regnet morgen gar nicht oder zu 100 Pro­zent. Auch kann nicht jeder Tropfen gleich Regen genannt werden, der zudem von Dir als minder­wertig diffa­miert wird.

Natürlich besteht immer der Verdacht, die Wahr­schein­lich­keiten seien nur so dahin­gesagt oder zu grob geraten. Im Beispiel könnte die Aussage durch die Bereit­schaft erhärtet werden, 7 zu 3 auf Regen oder 3 zu 7 dagegen zu wetten. Ich würde es nicht machen, denn ich bin kein Lotto­spieler und fürchte, am nächsten Tag darüber disku­tieren zu müssen, was ein Regen sei. Außerdem könnte ein anderer mehr Kenntnis erlangt haben und vermuten, daß umge­kehrt 30 Pro­zent eher zutreffen. Wenn ich aber an einer Wette nicht vorbei­komme, dann würde ich zumin­dest 1 zu 1 einen hohen Betrag auf Regen setzen. Und ist der andere wirk­lich von seiner Gegen­behaup­tung überzeugt, wird er die Wette annehmen.

Gute Vorurteile sind Apriori-Einschätzungen, die vorhandene Infor­mati­onen ange­messen berück­sichtigen. Von naiven Menschen werden sie trotzdem gerne als nega­tive Vorein­genommen­heit gewertet, sofern sie nicht in den Kram passen, selbst wenn sie sich mit der Zeit bewahr­heiten. Mir aber kommt es mehr auf Wahr­heit und begrün­dete Über­zeugung als Gesin­nung an. Deshalb mußte ich auch das ein oder andere meiner Vorur­teile korri­gieren oder vergessen, auch wenn das mit dem Alter nicht nur wegen zuneh­menden Starr­sinnes immer seltener erforder­lich wird, denn Erfah­rung macht auch das Vorur­teil treff­sicherer. Zumin­dest bekomme ich keine Magen­geschwüre, weil ich in mir spontan hoch­kommende Vorur­teile verschweige oder gar verdränge.

Der geneigte Leser wird schon ahnen, worauf es hinaus­läuft: Auf Rassen, Frauen, Juden, Zigeuner, Ausländer, Vandalen, Proleten, Säufer, Motorrad­fahrer, Täto­wierte, Krimi­nelle, Angeber, Reiche, Poli­zisten, Poli­tiker, Viro­logen. Viel­leicht wäre es einfa­cher, diese Mode­gruppen zu igno­rieren, mir kein Vorur­teil oder gar rechts­kräf­tiges Urteil anzumaßen. Doch leider geht das nicht in einer Zeit, da nicht nur korrekte Meinung, sondern auch Haltung gefor­dert ist, überall die heilige Vielfalt lauert und man durch jedes unbe­dachte oder lockere Wort als vorur­teils­beladen klassi­fiziert und beschimpft werden kann. [2]

[1] Dazu muß das Ereignis nicht unbedingt in der Zukunft liegen. Es gilt auch für vergangene oder gar zeitlose Ange­legen­heiten, deren Kenntnis noch unvoll­ständig, evtl. auch nie zu erlangen ist. Ein Beispiel: Wahr­schein­lich (also zu 100 Pro­zent, aber nicht sicher) gibt es keine ungerade voll­komene Zahl. Sollte irgend­wann eine gefunden werden, wäre das ausge­spro­chenes Pech und zugleich über­großes Glück.

[2] Glücklicherweise ist die Rente sicher und ich muß mein Geld nicht durch Meinungs­äußerung oder gar Satire verdienen. Immer weniger vermögen Ernst von Spaß, Satire von Hetze zu unter­scheiden. Einige wollen es auch nicht. Sie ereilt eine dem frommen Bibel­ausleger analoge Strafe: Sie können mit der Zeit normale oder gar blumen­reiche Sprache nicht mehr verstehen.

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