Das andere Ufer
Heute habe ich wenig davon, nicht mehr so schüch­tern wie als junger Mann zu sein, der nie in trauter Zwei­samkeit gesehen wurde und sich deshalb dem durchaus ausge­spro­che­nen Verdacht ausge­setzt sah, von anderem Ufer zu sein. Von 175ern wurde nur gespro­chen, wenn man es auch zu wissen glaubte. Freddy Quinn, der Sanges­held meiner Mutter galt als homo­sexuell, weil von seiner Frau nichts an die Öffent­lich­keit drang. Ewig­keiten ist das nicht her, denn Alan Turing, der Schwulen­held war bereits tot. Anders als Schnee­wittchen über­lebte er nicht den vergif­teten Apfel, in den er biß, nach­dem eine Therapie ihn depres­siv gemacht hatte. Die Alter­native war eine Gefäng­nis­strafe. Sechzig Jahre später hat die eng­lische Königin ihren Kriegs­helden reha­bili­tiert.

Inzwischen sind Homosexuelle zwar nicht flächen­deckend akzep­tiert, doch recht­lich weit­gehend gleich­gestellt. Viele haben noch vor Weih­nachten gehei­ratet. Mir unter­gekommen sind nur Promi­nente wie Volker Beck, Barbara Hendricks, Hape Kerle­ling und Jens Spahn, deren Veran­lagung lange bekannt und im Politik- und Vergnü­gungs­betrieb auch akzep­tiert ist. Zumin­dest die unver­heira­teten Männer ohne Weiber­ge­schichten waren schon immer Schwarm vieler Fersehe­rinnen. Daß Alfred Biolek schwul war, dachte eigent­lich jeder, bevor Rosa von Praun­heim 1991 auf dem heißen RTL-Stuhl sitzend ihn und Hape Kerke­ling als homosexuell outete.

Von Turing bis zur Ehe für alle ist etwas mehr als ein halbes Jahr­hundert ver­strichen, der größte Teil meiner Lebens­zeit. Eine lange Zeit für Menschen, die sich in dieser Frage enga­giert haben und oftmals kein Fort­kommen sahen, doch für einen alten Men­schen und vor allem mit Blick auf die Ge­schichte eine kurze Zeit. Andere Reformen wie die Auf­hebung des Zöli­bats werden länger dauern, das helio­zen­trische Weltbild benö­tigte weit über ein Jahr­hundert. Manchmal gehen für aus­sichts­los gehal­tene Vor­haben wie die UN-Gerichts­barkeit relativ schnell. Andere Rück­schritt­lich­keiten wie der Islam werden sich gegen jede Vernunft noch lange be­haupten.

Daß gewisse Fortschritte mehr Zeit benötigen als manchen lieb ist, weil schnell ihre Lebens­spanne über­schritten ist, liegt nicht nur an der Bös­artig­keit der gerne in den Kirchen gese­henen und gefun­denen ewig Gestri­gen. Auch nicht nur an der Durch­seuchung der Mensch­heit mit reli­giösem und anderem schlich­ten Gedan­kengut. Vielmehr erschei­nen neue Theo­rien und Auf­fassun­gen zunächst als unge­nauer oder unter­legen. Außerdem sind selbst Reformer und Forscher nicht frei von über­komme­nem Gedankengut. Die per­fekten Kreise des Koper­nikus waren den ausge­feilten Epi­zyklen an Genauig­keit unter­legen. Und selbst aufge­schlossene Forscher wie Kinsey und Morgen­thaler sahen in der homo­sexuellen Promis­kuität ein Hindernis. Sie wußten nicht wie bieder AIDS machen würde.

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