Projektion
wuerg, 22.09.2005 01:42
Hätte Gerhard Schröder die Medien nicht gescholten, woraufhin die Journalisten den Demoskopen die Schuld zuschieben wollten, wäre deren abermaliges Versagen schnell in Vergessenheit geraten. Doch diesmal hat es sogar eine Pressekonferenz gegeben, auf der die Beschuldigten ihre Zahlen vornehmlich dadurch zu verteidigen suchten, daß sie deren Bedeutung herunterspielten. Es habe niemals Prognosen gegeben, sondern nur Stimmungsbilder, allenfalls Projektionen.
Stimmungsbild meint, daß Leute befragt (zufrieden, unzufrieden, weiß nicht) und deren Ergebnisse bestenfalls vollständig und unkorrigiert wiedergegeben werden. Und nichts anderes wollen die Wahlforscher auf einmal getan haben. Sie schämen sich noch nicht einmal, sich damit selbst zu reinen Umfragern zu degradieren, die lediglich Mittelwerte aus Fragebögen wiedergeben. Solche Ergebnisse überprüfen zu wollen ist gleichermaßen unmöglich wie sinnleer. Daß Stimmungsbilder im Rahmen normaler zufälliger Schwankungen die Stimmung wiedergeben, glaube ich gerne.
Wenn es gelegentlich doch mehr als ein Stimmungsbild gewesen ist, wie zum Beispiel bei der berühmten Sonntagsfrage, „in der längerfristige Bindungen berücksichtigt sind“, dann wird das auch nicht mehr so gerne als Prognose, sondern allenfalls als Projektion gesehen. Eigentlich gelte die am Dienstag vor der Wahl gestellte Sonntagsfrage nur für diesen Dienstag und nicht für den in fünf Tagen folgenden Wahlsonntag. Man dürfe darin also keine Prognose sehen, sondern nur eine Projektion eines Stimmungsbildes auf eine mögliche Wahl, die aber am Erhebungstag nicht stattfindet, wodurch sich alles einer Überprüfung entzieht.
Diese Selbstreduktion der Demoskopen zu reinen Datenerhebern führt aber nicht zur Bescheidenheit. Vielmehr wird behauptet, die maximale Abweichung einer Vorhersage habe bis zu dieser letzten Wahl 1,9 Prozent betragen. Der Wähler habe erstmals sein Verhalten so schnell geändert, daß eine Prognose unmöglich folgen konnte. Das kann aber nicht völlig neu sein. Viele Wahlen haben schon Fehler weit über 5 Prozent erbracht, daß die genannten 1,9 Prozent sich allenfalls auf die Bundestagswahlen beziehen können. Für die war es in der Vergangenheit aber einfach, da es von Wahl zu Wahl kaum Bewegungen gab. Alle großen Veränderungen in der Bundesregierung beruhen mehr auf geänderten Bündnissen als veränderten Zahlen.
Vielleicht bezogen sich die 1,9 Prozent maximalen Fehlers auch nur auf das, was wohl immer noch Prognose genannt wird, nämlich auf die mit Schließung der Wahllokale veröffentlichte Schätzungen, denen dann schnell die Hochrechnungen folgen, die in der Tat nur wenig Veränderung bringen. Doch gerade sowas möchte ich nicht als Prognose bezeichnen, denn es wird nur etwas vorhergesagt, was zum Zeitpunkt der Befragung schon weitgehend eingetreten war. Wähler nach dem Urnengang am Sonntag zu befragen und daraus ein Wahlergebnis zu berechnen, führt selbstverständlich zu einem besseren Ergebnis als auf der Basis einer Befragung am Samstag zuvor: Der systematische Fehler ist geringer, weil nur Wähler und die auch noch nach der Tat befragt werden. Der zufällige Fehler ebenso, weil die Anzahl der Befragten wesentlich höher ist als bei den üblichen Telefoninterviews.
Die Genauigkeit der 18‑Uhr-Prognose und der große Fehler in den ‚Projektionen‘ der Tage zuvor, verführt zu der Behauptung, die Wähler seinen durch ihre „Volatilität“ selbst daran schuld, denn so schnelle Änderungen habe man nicht sehen können. Einmal davon abgesehen, daß damit schon wieder einer dieser ekelhaften Ausdrücke aus der Welt des Geldes (sich für die Koalitions-Verhandlungen optimal „aufstellen‘, doch nicht zu lange verharren, denn die Inder und Chinesen „sind unterwegs“) in die Sprache der Politiker eindringt, gibt es diese plötzliche Bewegung der Wähler auch nicht. Selbst die zunehmende Zahl der Unentschlossenen entscheidet sich nicht erst an der Urne vorwiegend für eine Richtung. Veränderungen sind allenfalls über Wochen eingetreten, in denen die Menschen sich von dem Versatzstück „gebt den Reichen viel, dann bekomme ich wenigstens etwas“ verabschiedet haben.
Ich persönlich kann wie die Demoskopen auch nur Behauptungen aufstellen, doch ganz andere: Nur ein Teil der Abweichungen ist auf Kirchhof und die Mehrwertsteuer zurückzuführen, und die Zweitstimmenkampagne der FDP hat nur die Gewichte im schwarz-gelben Lager verschoben. Vielmehr nahmen die Demoskopen an, was in früheren Jahren galt: Die Befragten schämen sich ihrer Liebe zur CDU. Das wurde regelmäßig durch Zuschläge von einigen Prozenten ausgeglichen. Diesmal aber war es umgekehrt: Es war ‚angesagt‘, aus Verärgerung über die Politik Schröders nun die CDU wählen zu wollen. Somit erfolgten die Korrekturen in die falsche Richtung. Und daran gemessen ist die Abweichung der Realität von der Prognose eigentlich gar nicht so groß.
Wahlprognose
Stimmungsbild meint, daß Leute befragt (zufrieden, unzufrieden, weiß nicht) und deren Ergebnisse bestenfalls vollständig und unkorrigiert wiedergegeben werden. Und nichts anderes wollen die Wahlforscher auf einmal getan haben. Sie schämen sich noch nicht einmal, sich damit selbst zu reinen Umfragern zu degradieren, die lediglich Mittelwerte aus Fragebögen wiedergeben. Solche Ergebnisse überprüfen zu wollen ist gleichermaßen unmöglich wie sinnleer. Daß Stimmungsbilder im Rahmen normaler zufälliger Schwankungen die Stimmung wiedergeben, glaube ich gerne.
Wenn es gelegentlich doch mehr als ein Stimmungsbild gewesen ist, wie zum Beispiel bei der berühmten Sonntagsfrage, „in der längerfristige Bindungen berücksichtigt sind“, dann wird das auch nicht mehr so gerne als Prognose, sondern allenfalls als Projektion gesehen. Eigentlich gelte die am Dienstag vor der Wahl gestellte Sonntagsfrage nur für diesen Dienstag und nicht für den in fünf Tagen folgenden Wahlsonntag. Man dürfe darin also keine Prognose sehen, sondern nur eine Projektion eines Stimmungsbildes auf eine mögliche Wahl, die aber am Erhebungstag nicht stattfindet, wodurch sich alles einer Überprüfung entzieht.
Diese Selbstreduktion der Demoskopen zu reinen Datenerhebern führt aber nicht zur Bescheidenheit. Vielmehr wird behauptet, die maximale Abweichung einer Vorhersage habe bis zu dieser letzten Wahl 1,9 Prozent betragen. Der Wähler habe erstmals sein Verhalten so schnell geändert, daß eine Prognose unmöglich folgen konnte. Das kann aber nicht völlig neu sein. Viele Wahlen haben schon Fehler weit über 5 Prozent erbracht, daß die genannten 1,9 Prozent sich allenfalls auf die Bundestagswahlen beziehen können. Für die war es in der Vergangenheit aber einfach, da es von Wahl zu Wahl kaum Bewegungen gab. Alle großen Veränderungen in der Bundesregierung beruhen mehr auf geänderten Bündnissen als veränderten Zahlen.
Vielleicht bezogen sich die 1,9 Prozent maximalen Fehlers auch nur auf das, was wohl immer noch Prognose genannt wird, nämlich auf die mit Schließung der Wahllokale veröffentlichte Schätzungen, denen dann schnell die Hochrechnungen folgen, die in der Tat nur wenig Veränderung bringen. Doch gerade sowas möchte ich nicht als Prognose bezeichnen, denn es wird nur etwas vorhergesagt, was zum Zeitpunkt der Befragung schon weitgehend eingetreten war. Wähler nach dem Urnengang am Sonntag zu befragen und daraus ein Wahlergebnis zu berechnen, führt selbstverständlich zu einem besseren Ergebnis als auf der Basis einer Befragung am Samstag zuvor: Der systematische Fehler ist geringer, weil nur Wähler und die auch noch nach der Tat befragt werden. Der zufällige Fehler ebenso, weil die Anzahl der Befragten wesentlich höher ist als bei den üblichen Telefoninterviews.
Die Genauigkeit der 18‑Uhr-Prognose und der große Fehler in den ‚Projektionen‘ der Tage zuvor, verführt zu der Behauptung, die Wähler seinen durch ihre „Volatilität“ selbst daran schuld, denn so schnelle Änderungen habe man nicht sehen können. Einmal davon abgesehen, daß damit schon wieder einer dieser ekelhaften Ausdrücke aus der Welt des Geldes (sich für die Koalitions-Verhandlungen optimal „aufstellen‘, doch nicht zu lange verharren, denn die Inder und Chinesen „sind unterwegs“) in die Sprache der Politiker eindringt, gibt es diese plötzliche Bewegung der Wähler auch nicht. Selbst die zunehmende Zahl der Unentschlossenen entscheidet sich nicht erst an der Urne vorwiegend für eine Richtung. Veränderungen sind allenfalls über Wochen eingetreten, in denen die Menschen sich von dem Versatzstück „gebt den Reichen viel, dann bekomme ich wenigstens etwas“ verabschiedet haben.
Ich persönlich kann wie die Demoskopen auch nur Behauptungen aufstellen, doch ganz andere: Nur ein Teil der Abweichungen ist auf Kirchhof und die Mehrwertsteuer zurückzuführen, und die Zweitstimmenkampagne der FDP hat nur die Gewichte im schwarz-gelben Lager verschoben. Vielmehr nahmen die Demoskopen an, was in früheren Jahren galt: Die Befragten schämen sich ihrer Liebe zur CDU. Das wurde regelmäßig durch Zuschläge von einigen Prozenten ausgeglichen. Diesmal aber war es umgekehrt: Es war ‚angesagt‘, aus Verärgerung über die Politik Schröders nun die CDU wählen zu wollen. Somit erfolgten die Korrekturen in die falsche Richtung. Und daran gemessen ist die Abweichung der Realität von der Prognose eigentlich gar nicht so groß.
Wahlprognose
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nicodemus,
22.09.2005 10:18
Wie wichtig sind Prognosen?
Kein Politiker kann sich leisten ohne Umfrageergebnisse einen Wahlkampf zu führen. Ohne Demoskopen hätte die CDU keinen Anlass gesehen Kirchhof von der Bildfläche verschwinden zu lassen und Stoiber würde nicht auf seine Mitbürger im Osten der Republik losgehen. Die SPD währe in ihrer Lethargie verharrt und hätte den Überlebenskampf aufgegeben.
Die Frage die sich mir stellt ist eher, verändern Prognosen das Verhalten der Parteien? Ich glaube JA! Eine, der parteipolitischen Idee und Richtung negative beurteilte Umfrage wird in die zu vermutende positive Linie geändert und damit ist in Frage gestellt wie ehrlich und mit welcher Überzeugung der Wahlkampf um Stimmen noch geführt wird. Beeinflusst werden nicht nur die Parteien, auch der „Wechselwähler“ ändert seine Einstellung nach der ermittelten Prognose und vor allem nach der Fragestellung. Der tatsächliche Wert einer festgestellten Stimmung im Volke ist nicht so wichtig wie die psychologische Auswirkung.
Kein Politiker kann sich leisten ohne Umfrageergebnisse einen Wahlkampf zu führen. Ohne Demoskopen hätte die CDU keinen Anlass gesehen Kirchhof von der Bildfläche verschwinden zu lassen und Stoiber würde nicht auf seine Mitbürger im Osten der Republik losgehen. Die SPD währe in ihrer Lethargie verharrt und hätte den Überlebenskampf aufgegeben.
Die Frage die sich mir stellt ist eher, verändern Prognosen das Verhalten der Parteien? Ich glaube JA! Eine, der parteipolitischen Idee und Richtung negative beurteilte Umfrage wird in die zu vermutende positive Linie geändert und damit ist in Frage gestellt wie ehrlich und mit welcher Überzeugung der Wahlkampf um Stimmen noch geführt wird. Beeinflusst werden nicht nur die Parteien, auch der „Wechselwähler“ ändert seine Einstellung nach der ermittelten Prognose und vor allem nach der Fragestellung. Der tatsächliche Wert einer festgestellten Stimmung im Volke ist nicht so wichtig wie die psychologische Auswirkung.
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wuerg,
22.09.2005 13:59
Ich bin der letzte, der gerne auf Prognosezahlen verzichten würde, und habe auch viel Verständnis dafür, daß sich eine Vorhersage nur in dem Maße der veränderten Realität anpassen kann, wie es die Menge und Güte der aktuellen Daten hergeben. Für zutreffende Wahlprognosen muß man Zehntausende befragen oder kleinere Stichproben über längere Zeit akkumulieren. Letzteres funktioniert nur, wenn die Veränderungen der Realität nur langsam eintreten. Da die finanziellen Mittel beschränkt sind, muß man also in bewegten Zeiten mit großen Fehlern rechnen.
Es liegt somit in der Natur der Sache, daß sich eine preiswerte Prognose nur langsam der veränderten Realität anpaßt. Das könnte nun dazu verführen, den vorhergesagten absoluten Zahlen wenig Bedeutung beizumessen und sich auf die Veränderungen zu stürzen, denn auch eine langsame Anpassung sollte ja zumindest in die richtige Richtung gehen. So konnte man unabhängig von der absoluten Überschätzung der CDU einen stetigen Niedergang des schwarz-gelben Lagers beobachten, ohne sicher sein zu können, worauf er in welchem Maße zurückzuführen ist. Die Mehrwertsteuer, das TV‑Duell und Kirchhof werden beigetragen haben. Vielleicht war es aber auch eine allgemeine Einsicht, die den Menschen mit dem Herannahen der Stunde der Wahrheit kam.
Wenn auch der Trend von den Demoskopen richtig gesehen wurde, so darf man nicht in den Fehler verfallen, diesen Trend einfach im Geiste zu verstärken, um so die veröffentlichten Zahlen zu korrigieren. Ein Beispiel: Es werden im Verlaufe von 5 Wochen 25, 23, 24, 23, 21, 21 Prozent vorhergesagt. Eine Abnahme von etwa 0,8 Prozent pro Woche ist also erkennbar. Wissend, daß die Demoskopen stark an alten Daten festhalten (müssen), verdoppele ich im Geiste den Trend auf 1,6 Prozent pro Woche und erhalte als private aktuelle Prognose nur noch 17 Prozent. Das hätte mit der vergangenen Wahl gut funktioniert, im allgemeinen ist es jedoch falsch. Es erhöht die Gefahr, zufällige Bewegungen zu einem Trend zu erheben. Und wenn es derart einfach ginge, dann würden es die Demoskopen auch so machen. So doof sind auch wieder nicht.
Meines Erachtens besteht der Hauptmangel der Wahlvorhersage nicht in den vorstehend geschilderten notwendigen Langsamkeiten, sondern der mangelnden Anpassung der Parameter und des Modells zwischen den Wahlen selbst. So sind die Umfrageergebnisse der CDU wohl erhöht worden, weil sich das in der Vergangenheit bewährt hatte. Es wird nicht nur das Endergebnis um mehr als 5 Prozent überschätzt worden sein. In Wirklichkeit wird es nie eine sichere schwarz-gelbe Mehrheit gegeben haben, schon gar keine absolute. Die Demoskopen haben nicht messen können, daß diesmal die Wahl der CDU nicht schamhaft verschwiegen wurde. Sie hätten aber, wie es sonst wohl auch ihre Art ist, ohne abgesicherte Grundlage, einfach nach dem Gefühl berücksichtigen können, daß diesmal alle Welt sich damit brüstete, für einen Wechsel sorgen zu wollen.
Natürlich beeinflussen veröffentlichte Stimmungsbarometer oder gar Prognosen das Verhalten der Parteien und des Wählers. Man könnte sogar zu der Auffassung gelangen, daß Prognosen wegen eines möglichen Schadens gar nicht mehr erstellt werden dürfen. Solange sie aber erlaubt sind, sollten sie mögliche Rückkopplungen beachten. Dies geschieht wohl auch nur nach dem Gefühl oder aus Vorsicht. So scheut man sich, eine Partei über die absolute Mehrheit zu bringen, weil die Bevölkerung dieses sofort abstraft. Ohne Not kreuzt man deshalb nicht die Linien von 5 und 50 Prozent. Zu groß ist die Angst vor dem Wechselwähler oder den Unentschlossenen, obgleich deren Macht wohl überschätzt wird. Wollte man ihnen einen Einbruch von 5 Prozent in die Schuhe schieben, dann dürften nicht mehr als ein Viertel von ihnen CDU gewählt haben. Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollten gerade sie die mündigsten Bürger sein?
Es liegt somit in der Natur der Sache, daß sich eine preiswerte Prognose nur langsam der veränderten Realität anpaßt. Das könnte nun dazu verführen, den vorhergesagten absoluten Zahlen wenig Bedeutung beizumessen und sich auf die Veränderungen zu stürzen, denn auch eine langsame Anpassung sollte ja zumindest in die richtige Richtung gehen. So konnte man unabhängig von der absoluten Überschätzung der CDU einen stetigen Niedergang des schwarz-gelben Lagers beobachten, ohne sicher sein zu können, worauf er in welchem Maße zurückzuführen ist. Die Mehrwertsteuer, das TV‑Duell und Kirchhof werden beigetragen haben. Vielleicht war es aber auch eine allgemeine Einsicht, die den Menschen mit dem Herannahen der Stunde der Wahrheit kam.
Wenn auch der Trend von den Demoskopen richtig gesehen wurde, so darf man nicht in den Fehler verfallen, diesen Trend einfach im Geiste zu verstärken, um so die veröffentlichten Zahlen zu korrigieren. Ein Beispiel: Es werden im Verlaufe von 5 Wochen 25, 23, 24, 23, 21, 21 Prozent vorhergesagt. Eine Abnahme von etwa 0,8 Prozent pro Woche ist also erkennbar. Wissend, daß die Demoskopen stark an alten Daten festhalten (müssen), verdoppele ich im Geiste den Trend auf 1,6 Prozent pro Woche und erhalte als private aktuelle Prognose nur noch 17 Prozent. Das hätte mit der vergangenen Wahl gut funktioniert, im allgemeinen ist es jedoch falsch. Es erhöht die Gefahr, zufällige Bewegungen zu einem Trend zu erheben. Und wenn es derart einfach ginge, dann würden es die Demoskopen auch so machen. So doof sind auch wieder nicht.
Meines Erachtens besteht der Hauptmangel der Wahlvorhersage nicht in den vorstehend geschilderten notwendigen Langsamkeiten, sondern der mangelnden Anpassung der Parameter und des Modells zwischen den Wahlen selbst. So sind die Umfrageergebnisse der CDU wohl erhöht worden, weil sich das in der Vergangenheit bewährt hatte. Es wird nicht nur das Endergebnis um mehr als 5 Prozent überschätzt worden sein. In Wirklichkeit wird es nie eine sichere schwarz-gelbe Mehrheit gegeben haben, schon gar keine absolute. Die Demoskopen haben nicht messen können, daß diesmal die Wahl der CDU nicht schamhaft verschwiegen wurde. Sie hätten aber, wie es sonst wohl auch ihre Art ist, ohne abgesicherte Grundlage, einfach nach dem Gefühl berücksichtigen können, daß diesmal alle Welt sich damit brüstete, für einen Wechsel sorgen zu wollen.
Natürlich beeinflussen veröffentlichte Stimmungsbarometer oder gar Prognosen das Verhalten der Parteien und des Wählers. Man könnte sogar zu der Auffassung gelangen, daß Prognosen wegen eines möglichen Schadens gar nicht mehr erstellt werden dürfen. Solange sie aber erlaubt sind, sollten sie mögliche Rückkopplungen beachten. Dies geschieht wohl auch nur nach dem Gefühl oder aus Vorsicht. So scheut man sich, eine Partei über die absolute Mehrheit zu bringen, weil die Bevölkerung dieses sofort abstraft. Ohne Not kreuzt man deshalb nicht die Linien von 5 und 50 Prozent. Zu groß ist die Angst vor dem Wechselwähler oder den Unentschlossenen, obgleich deren Macht wohl überschätzt wird. Wollte man ihnen einen Einbruch von 5 Prozent in die Schuhe schieben, dann dürften nicht mehr als ein Viertel von ihnen CDU gewählt haben. Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollten gerade sie die mündigsten Bürger sein?
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mark793,
22.09.2005 13:17
Ich halte diese
angebliche zunehmende Wählerwankelmütigkeit auch für eine faule Ausrede der Demoskopen.
Es ist ja kein Geheimnis, dass die per Umfrage gewonnenen Daten nur Rohmeterial sind, das mit allen möglichen arkanen Algorithmenzurechtmanipuliert nachveredelt wird. Es ist auch nicht neu, dass Befragte nicht das preisgeben, wen sie tatsächlich wählen - aber dieser Verzerrungseffekt müsste ja alle Parteien und Fraktionen gleichermaßen treffen...
Es ist ja kein Geheimnis, dass die per Umfrage gewonnenen Daten nur Rohmeterial sind, das mit allen möglichen arkanen Algorithmen
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wuerg,
23.09.2005 14:06
Wie aus den Befragungdaten Prognosen werden, ist im Prinzip einfach: Die aktuellen Daten bilden zusammen mit der alten Prognose eine neue. Was soll man besser machen? Und es ist auch nicht unmoralisch, wenn die erfragten Rohdaten zuvor einer Korrektur unterliegen. Betrug durch die Fragenden soll recht selten sein, wesentlich aber ist die Abweichung der Antworten von der wirklichen Meinung oder späteren Handlungsweise. Wahrscheinlich schon Wochen vor dem letzten Wahltermin waren diese Korrekturen falsch. Leider kann man sie nur schlecht objektiv ermitteln. Hier ist Gefühl gefragt, das Frau Noelle-Neumann über viele Jahre gehabt haben soll. Im letzten Wahlkampf allerdings waren die Demoskopen wie die Journalisten einer Wechseleuphorie verfallen, daß sie die Nüchternheit des Wahlvolkes nicht erkannt und eingerechnet haben.
Neben der behaupteten neunen und spontanen Volatilität der Wähler wird auch gerne die hohe Zahl der Unentschiedenen als Entschuldigung herangezogen, die ich nicht gelten lassen kann: Zum einen sind 30 Prozent noch am Wahltag Unentschiedene nicht allesamt neu, zum anderen entscheiden sie sich vor der Urne nicht wesentlich anders als die 70 Prozent mit fester Meinung. Einzig das Zuhausebleiben der Anhänger vorzugsweise einer Partei kann das Ergebnis um einige Prozente verschieben, wie es zumindest früher auch CDU-Wetter gegeben haben soll. Doch diese Probleme hatte man schon immer, nicht erst am letzten Sonntag.
Nach anfänglicher Beschimpfung der Wähler, die sich erst in letzter Sekunde entscheiden und bei Umfragen skrupellos lügen würden, kommen die Journalisten und selbst die Demoskopen nun zur Vernunft und bekennen, nicht nur das Wahlvolk, sondern auch die wahre Situation falsch eingeschätzt zu haben. Gelegentlich übertreiben sie sogar und behaupten, der Wähler habe vorsätzlich den Politikern eine schwierige Aufgabe als Bewährungsprobe gestellt und erwarte nun keine Neuwahl sondern eine Lösung. Auch das ist Blödsinn, denn es gibt nicht einen Wähler, sondern Millionen. Um dem Bedürfnis nach Vereinfachung und Vermenschlichung nachzukommen, kann man sich zwei Wählergruppen vorstellen: Die eine wollte den Wechsel zur CDU, die andere gab der SPD noch eine letzte Chance. Die Mischung endete mit 34 zu 35. Dahinter steckt kein Wille. Das ist normale Mittelwertsbildung. Und mit einem Patt muß man bei sechs Parteien schon rechnen.
Neben der behaupteten neunen und spontanen Volatilität der Wähler wird auch gerne die hohe Zahl der Unentschiedenen als Entschuldigung herangezogen, die ich nicht gelten lassen kann: Zum einen sind 30 Prozent noch am Wahltag Unentschiedene nicht allesamt neu, zum anderen entscheiden sie sich vor der Urne nicht wesentlich anders als die 70 Prozent mit fester Meinung. Einzig das Zuhausebleiben der Anhänger vorzugsweise einer Partei kann das Ergebnis um einige Prozente verschieben, wie es zumindest früher auch CDU-Wetter gegeben haben soll. Doch diese Probleme hatte man schon immer, nicht erst am letzten Sonntag.
Nach anfänglicher Beschimpfung der Wähler, die sich erst in letzter Sekunde entscheiden und bei Umfragen skrupellos lügen würden, kommen die Journalisten und selbst die Demoskopen nun zur Vernunft und bekennen, nicht nur das Wahlvolk, sondern auch die wahre Situation falsch eingeschätzt zu haben. Gelegentlich übertreiben sie sogar und behaupten, der Wähler habe vorsätzlich den Politikern eine schwierige Aufgabe als Bewährungsprobe gestellt und erwarte nun keine Neuwahl sondern eine Lösung. Auch das ist Blödsinn, denn es gibt nicht einen Wähler, sondern Millionen. Um dem Bedürfnis nach Vereinfachung und Vermenschlichung nachzukommen, kann man sich zwei Wählergruppen vorstellen: Die eine wollte den Wechsel zur CDU, die andere gab der SPD noch eine letzte Chance. Die Mischung endete mit 34 zu 35. Dahinter steckt kein Wille. Das ist normale Mittelwertsbildung. Und mit einem Patt muß man bei sechs Parteien schon rechnen.
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mark793,
23.09.2005 14:26
Das ist so ziemlich das vernünftigste,
was ich dazu bisher gelesen habe.
Ich glaube indes nicht, dass die Zeitreihen aus den laufenden Sonntagsfragereien unterm Wahljahr allzu stark in die Wahlprognosen einfließen.
Ich glaube indes nicht, dass die Zeitreihen aus den laufenden Sonntagsfragereien unterm Wahljahr allzu stark in die Wahlprognosen einfließen.
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wuerg,
23.09.2005 15:16
Eine einzelne Sonntagfrage oder ein einziges sog. Stimmungbild fließt sicherlich nur schwach ein, doch sammeln sie sich an. Wenn ich in der Woche i eine Zahl aᵢ erfragt habe, dann würde ich meine Prognose pᵢ gemäß
pi = 0,9⋅pi−1 + 0,1⋅ai
berechnen. Das ist immer noch besser als die 200-Tage-Mittel von Aktienkursen. Für solche Primitiv-Mittelwerte ist es gleich, ob der Kurs heute gestiegen oder vor 200 Tagen gesunken ist. Und trotzdem glaubt man feste daran, daß es mit einer Aktie aufwärts geht, wenn sie die 200-Tage-Linie von unten durchbricht. Vielleicht sollte man es mit Parteien ebenso machen: Es geht aufwärts, wenn die aktuellen Stimmungbilder den Jahredurchschnitt von unten durchbrechen. Das wäre für die SPD wohl der Fall gewesen, nicht für die CDU.
pi = 0,9⋅pi−1 + 0,1⋅ai
berechnen. Das ist immer noch besser als die 200-Tage-Mittel von Aktienkursen. Für solche Primitiv-Mittelwerte ist es gleich, ob der Kurs heute gestiegen oder vor 200 Tagen gesunken ist. Und trotzdem glaubt man feste daran, daß es mit einer Aktie aufwärts geht, wenn sie die 200-Tage-Linie von unten durchbricht. Vielleicht sollte man es mit Parteien ebenso machen: Es geht aufwärts, wenn die aktuellen Stimmungbilder den Jahredurchschnitt von unten durchbrechen. Das wäre für die SPD wohl der Fall gewesen, nicht für die CDU.
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mark793,
23.09.2005 15:29
Hm, ich weiß nicht.
Dabei wären die per Sonntagsfrage gemessenen Stimmungsschwankungen zwischen den Wahlen womöglich immer noch überbewertet.
Ich kann das nur grammatikalisch/linguistisch ausdrücken: Wir reden von Konjunktiv (...wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl WÄRE). Und dazu fällt mir Eugen Roth ein mit seinem Spruch: "Das Bild der Welt ist immer schief - betrachtet durch den Konjunktiv." Gibt es ein mathematisches Gewichtungsverfahren, um diesen Modus-Unterschied ansatzweise quantifizierbar zu machen?
Wie Fritz Ulmer ja nachvollziehbar dargelegt hat, sind die tatsächlichen Schwankungen und Verschiebungen zwischen den Wahlergebnissen aufeinanderfolgender Wahlen doch kleiner als es zwischenzeitlicher Wechsel-Bohei und kurzfristige Barometer-Schwankungen erwarten ließen.
Man müsste also ein Gewichtungsverfahren finden, das die Messungen, die näher am entscheidenden Wahlsonntag liegen, stärker berücksichtigt als zeitlich weiter entfernte, oder?
Ich kann das nur grammatikalisch/linguistisch ausdrücken: Wir reden von Konjunktiv (...wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl WÄRE). Und dazu fällt mir Eugen Roth ein mit seinem Spruch: "Das Bild der Welt ist immer schief - betrachtet durch den Konjunktiv." Gibt es ein mathematisches Gewichtungsverfahren, um diesen Modus-Unterschied ansatzweise quantifizierbar zu machen?
Wie Fritz Ulmer ja nachvollziehbar dargelegt hat, sind die tatsächlichen Schwankungen und Verschiebungen zwischen den Wahlergebnissen aufeinanderfolgender Wahlen doch kleiner als es zwischenzeitlicher Wechsel-Bohei und kurzfristige Barometer-Schwankungen erwarten ließen.
Man müsste also ein Gewichtungsverfahren finden, das die Messungen, die näher am entscheidenden Wahlsonntag liegen, stärker berücksichtigt als zeitlich weiter entfernte, oder?
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wuerg,
23.09.2005 15:54
Ja, meine so schlichte Formel berücksichtigt Umfragen stärker, die näher am Wahlsontag liegen, denn die Rekursion führt auf
pi = 0,100⋅ai + 0,090⋅ai−1 + 0,081⋅ai−2 + 0,073⋅ai−3 + …
Alte Werte klingen langsam aus. Das unterscheidet vom völlig gleichgewichtigen 200-Tages-Mittel der Börsianer. Was den Faktor 0,1 betrifft, so habe ich nur einen kleinen und einfachen Wert gesucht. Ich könnte Ihnen zustimmen, wenn Sie 0,05 für besser hielten. Und natürlich würde ich zum Schluß noch die letzte Wahl mitbestimmen lassen, weil dadurch die Prognose nicht unbedingt besser, aber weniger angreifbar wird.
pi = 0,100⋅ai + 0,090⋅ai−1 + 0,081⋅ai−2 + 0,073⋅ai−3 + …
Alte Werte klingen langsam aus. Das unterscheidet vom völlig gleichgewichtigen 200-Tages-Mittel der Börsianer. Was den Faktor 0,1 betrifft, so habe ich nur einen kleinen und einfachen Wert gesucht. Ich könnte Ihnen zustimmen, wenn Sie 0,05 für besser hielten. Und natürlich würde ich zum Schluß noch die letzte Wahl mitbestimmen lassen, weil dadurch die Prognose nicht unbedingt besser, aber weniger angreifbar wird.
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mark793,
23.09.2005 16:05
Nun,
sooo schlicht ist Ihre Fomel schon mal nicht, denn tatsächlich hatte ich auf die Schnelle Mühe, den Gewichtungsschlüssel auf der Zeitebene herauszulesen. Obwohl: Das sagt vielleicht mehr über meine mathematische Begriffsstutzigkeit aus als über die Schlichtheit Ihrer Formel... ;-)
Wie stark man die tatsächlichen Wahlergebnisse gegenüber den zwischenzeitlichen Umfrage-Daten gewichten sollte, das müsste man vermutlich mal mit ein paar Modellrechnungen kalibrieren.
Wie stark man die tatsächlichen Wahlergebnisse gegenüber den zwischenzeitlichen Umfrage-Daten gewichten sollte, das müsste man vermutlich mal mit ein paar Modellrechnungen kalibrieren.
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wuerg,
23.09.2005 16:51
Entschuldigung, ein Mathematiker spricht von einer schlichten Formel, wenn sie kurz ist. Der exponentielle Abfall der Gewichte Richtung Vergangenheit war sicherlich nicht jedermann sofort ersichtlich.
Jedes Prognoseverfahren hat einige einstellbare Parameter, meine Formel hat nur einen. Um den optimalen Wert zu finden, bleibt nicht viel anderes als ein Abgleich an den Wahlen der Vergangenheit. Doch das ist keine Garantie für die Zukunft. Diese schmerzliche Erfahrung mußten viele Chartanalysten schon machen.
Es kommt wahrscheinlich gar nicht so sehr darauf an, ob 1,2 oder 0,4 der beste Parameter ist. Treten grobe Abweichungen auf, werden beide versagen. Für diese Einsicht muß man nicht rechnen können, sondern einfach zur Kenntnis nehmen, daß am Sonntag die Fehler aller Institute gleichgerichtet waren. Wenn sie auch notgedrungen alle ähnliche Verfahren verwenden, so doch sicherlich verschiedene Parameter und Korrekturen.
Ob eine größere Datenmenge helfen würde, ist fraglich. Es ist eben wie beim Wetter: Durch ein dichteres Netz von Meßstationen und den Einsatz von Supercomputern wird man etwas sicherer in der Vorhersage, doch der große Durchbruch kann nicht gelingen.
Jedes Prognoseverfahren hat einige einstellbare Parameter, meine Formel hat nur einen. Um den optimalen Wert zu finden, bleibt nicht viel anderes als ein Abgleich an den Wahlen der Vergangenheit. Doch das ist keine Garantie für die Zukunft. Diese schmerzliche Erfahrung mußten viele Chartanalysten schon machen.
Es kommt wahrscheinlich gar nicht so sehr darauf an, ob 1,2 oder 0,4 der beste Parameter ist. Treten grobe Abweichungen auf, werden beide versagen. Für diese Einsicht muß man nicht rechnen können, sondern einfach zur Kenntnis nehmen, daß am Sonntag die Fehler aller Institute gleichgerichtet waren. Wenn sie auch notgedrungen alle ähnliche Verfahren verwenden, so doch sicherlich verschiedene Parameter und Korrekturen.
Ob eine größere Datenmenge helfen würde, ist fraglich. Es ist eben wie beim Wetter: Durch ein dichteres Netz von Meßstationen und den Einsatz von Supercomputern wird man etwas sicherer in der Vorhersage, doch der große Durchbruch kann nicht gelingen.
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