Wahlprognose
Zur Zeit wird vielfach auf die Wahl­progno­stiker geschimpft. Da frage ich mich, ob meine Zahlen unter den obwal­tenden Umstän­den besser gewesen wären, denn auf einem anderen Gebiet habe ich eben­falls Prognosen mit geringem finan­ziellen Einsatz erstellt, die oftmals noch weiter von der Realität entfernt waren. Wenn eine Woche vor der Wahl die erfrag­ten Werte für die CDU um 5 Prozent sinken, dann wäre ich ange­sichts der kleinen Stich­probe auch vor­sichtig gewesen und hätte davon 4 Prozent dem Zufall zuge­rechnet und mich um 1 Prozent nach unten bewegt. Auch dann, wenn die Journa­listen nicht umfrage­gläubig und wechsel­gierig gewesen wären, ihre Finger am Puls des Volkes gehabt und einen Einbruch berichtet hätten. Denn Programme oder Para­meter kurz vor dem Ziel zu ändern, ist unred­lich.

Allerdings hätte meine Korrektur um 1 Prozent etwas anders ausgesehen. Ich hätte von 37 bis 47 Pro­zent auf 36 bis 46 Pro­zent korri­giert. Die wahren 35 Pro­zent wären auch von mir damit nicht getroffen worden, doch darf ich mir das in einem von 20 Fäl­len leisten. Und der wäre eben diesmal gewesen, weil die hohe Zahl der von der FDP abge­grif­fenen Zweit­stimmen sehr plötz­lich kam. Für die schwarz-​gelbe Koali­tion hätte ich mich von 43 bis 53 Pro­zent auf 42 bis 52 Pro­zent korri­giert und damit richtig gelegen. Und ich bin sicher, so mancher schlichte Mitar­beiter in den Meinungs­for­schungs­insti­tuten ist mit mir einer Meinung: Auf der Basis der erho­benen Daten sind keine genau­eren Angaben möglich, sofern sie in 19 von 20 Fäl­len auch zutref­fen sollen.

Doch interessieren solche Zahlen kaum einen Menschen. Als EMNID sich im Jahre 1987 die Prognose
CDU   42,3 bis 49,2 Prozent
SPD   32,9 bis 41,1 Prozent
FDP    5,8 bis 10,2 Prozent
Grüne  5,8 bis 10,2 Prozent
mit einer Sicherheit von 90% notariell bestä­tigen ließ, gab es nur Spott: Genauso könne man vorher­sagen, daß Helmut Kohl zwischen 100 und 200 Kilo­gramm wiege.

Die Kritik ist also nur teilweise an den Methoden der Wahl­progno­stiker anzu­setzen. Der von Fritz Ulmer [1] Wahl­betrug genannte Haupt­mangel besteht darin, daß von den Zahlen nur der Mittel­wert ver­öffent­licht wird, und der auch noch mit einer Nach­komma­stelle, ohne auch nur einen kleinge­druckten Hinweis auf die wirk­liche Genauig­keit. Zu verant­worten haben das zunächst die Ver­breiter dieser durch Präzi­sion geschönten Zahlen, dann aber auch deren Liefe­ranten, die solche Angaben unwider­sprochen lassen.

Und leider ist auf der Basis dieser wechsel­seitigen Abhängig­keiten Schlim­meres zu vermuten: Die CDU wurde über Jahr­zehnte aufge­wertet. Wahr­schein­lich aus dem redli­chen Motiv heraus, die aus Scham erfolg­ten Fehl­angaben der Befrag­ten auszu­gleichen. Abge­wertet wurde sie praktisch nur dann, wenn eine progno­sti­zierte absolute Mehrheit zur Abstra­fung geführt hätte. Auch das ist ein redli­ches Motiv, doch leider unwis­senschaft­lich. Auch an der 5‑Prozent-​Hürde ent­scheiden mehr die Mei­nungen als die Zahlen: Aus Angst vor dieser Grenze und weil die Grünen drei Jahre zuvor 8,3 Pro­zent erreich­ten, progno­sti­zierte man ihnen im Jahre 1990 bis kurz vor der Wahl noch 7 Pro­zent, von denen sie dann 4,8 erreich­ten. Es ist also alles nicht neu.

[1] Fritz Ulmer: Der Dreh mit den Prozentzahlen.

Projektion

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Mir geht es nicht anders als den meisten: Die Fehl­prognose zum letzten Sonntag wird als grobe Fehl­leistung, von manchen gar als Manipu­lation empfunden, die teil­weise noch größe­ren Fehl­griffe der Vergan­genheit aber sind ver­gessen. Und wenn die 35 statt 42 Pro­zent für die CDU zurnächsten Wahl noch im Gedächt­nis sein sollten, dann wegen der Medien­schelte des Bundes­kanzlers. Mag man ihn mit seiner Frau auch für seinen Ton rügen, so ist im Kern doch eine unange­nehme Wahrheit ange­sprochen. Und da die meisten Journa­listen zwar partei­lich sind, doch nicht absicht­lich manipu­lieren, fühlen sie sich ertappt und zeigen sich nach einigen Ent­schul­digun­gen for­dernden Pflicht­übungen teil­weise auch selber schuld­bewußt. Natür­lich geben sie einen Teil dieser Schuld an die Demo­skopen weiter, gleichwohl Journa­listen im Gegen­satz zum gemeinen Volk um die Unsicher­heit und Korrektur der Umfrage­ergeb­nisse wußten.

Zur Erinnerung schreibe ich aus einem Aufsatz von Fritz Ulmer ab: „Wer hat noch nicht vergessen, dass im Vorfeld der BTW 2002 Frau Noelle-​Neumann und ihr Allens­bach-​Insti­tut der FDP in der FAZ über Wochen Werte um die 12% in Aussicht stellten? Eine Platt­form für den Über­flieger Mölle­mann zum Abheben in Rich­tung 18%. Noch am Tage vor der Wahl wurden 9,5% in der FAZ verbürgt. Die Bruch­landung erfolgte bei 7,4%. […] Noch spekta­kulärer entfal­tete sie ihre Koch­kunst bei der Land­tags­wahl im Saar­land 1985: Zeyer (CDU) contra Lafon­taine (SPD). Sie prophe­zeite der CDU die absolute Mehrheit, den Grü­nen 6,5%, der FDP mit 1,9% das Aus. Die absolute Mehrheit kam zustande, aller­dings für die SPD. Auch die FDP lachte sich mit 10% ins Fäust­chen, während die Grünen sich mit 2,5% die Augen rieben.“ [1]

Die meisten letzten Prognosen vor dem Wahl­termin weisen deut­liche Abweich­ungen vom Wahler­gebnis auf. Fritz Ulmer nennt zahl­reiche Beispiele, von denen ich nur noch eines erwähnen will, weil es die gleichen Zahlen wie letzten Sonntag zeigt, wenn auch für eine andere Partei: Noch wenige Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-​Anhalt im Jahre 1998 wurden 41 bis 44 Pro­zent der SPD in Aussicht gestellt, wovon sie nur 35,9 erreichte. Zum Ausgleich erhielt die DVU mit 12,9 Pro­zent das Doppelte der Prognose.

[1] Fritz Ulmer: Grabmal für die unbekannte Fehlprognose.

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