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Jocelyn Bell Burnell
wuerg, 05.04.2018 00:23
Nach Chien-Shiung Wu, Rosalind Franklin und Lise Meitner auf den Plätzen 7, 1 und 5 der in [1] genannten Frauen, deren Ruhm Männer ernteten, nun Jocelyn Bell Burnell auf Platz 10 als die letzte, die keinen Nobelpreis erhielt. Während die ersten drei nur mittelbar beteiligt waren, hat Jocelyn Bell tatsächlich eine Entdeckung gemacht, weil sie mit Radioteleskopen aufgefangene Signale nicht als Störung abtat, sondern zusammen mit ihrem Doktorvater Antony Hewish untersuchte und heute als Entdeckerin des ersten Pulsares gilt.
Obwohl sie in der zugehörigen Veröffentlichung an zweiter Stelle genannt ist, erhielt neben Antony Hewish nicht sie den Nobelpreis, sondern der Institutsleiter Martin Ryle, der zuvor Grundlagen der Radioteleskopie schuf. Jocelyn Bell war in den Augen des Nobelkomitees nur eine mit Datenauswertung beschäftigte Doktorandin. „'Die Daten kamen auf Tabellenblättern heraus', erklärt sie. 'Damals gab es nur sehr, sehr wenige Computer, stattdessen ließ man die Ergebnisse einfach durch uns Absolventen auswerten.' […] Viele Forscher hätten diese Signale als technische Störung abgetan. Aber Bell und Hewish waren erstklassige Wissenschaftler, die es genau wissen wollten.“ [2]
Vom Nobelpreis abgesehen haben Männer nicht den größten Ruhm eingefahren. In einem Lehrbuch für Studenten steht Jocelyn Bell unter der Überschrift „Wie wurden Neutronensterne entdeckt?“ ganz vorne: „Die ersten Beobachtungshinweise auf Neutronensterne stammen aus dem Jahr 1967, als eine 24‑jährige Doktorandin namens Jocelyn Bell eine seltsame Radioquelle entdeckte. Bell hatte ihren Betreuer, Anthony Hewish, beim Bau eines Radioteleskopes unterstützt, […] Nachdem sie andere Möglichkeiten ausgeschlossen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass irgendwo aus der Nähe des Sternbilds Schwan (Cygnus) gepulste Radiostahlung empfangen wurde. Die Intervalle betrugen genau 1,337301 Sekunden.“ [3]
Auch die Bibel der Astrophysik widmet sich nicht nur der Entdeckung, sondern in einer Fußnote auch der Kontroverse: „In 1974 Hewish was awarded a share of the Nobel Prize, along with Martin Ryle, for their work in radio astronomy. Fred Hoyle and others have argued that Jocelyn Bell should have shared the prize as well; Hewish had designed the radio array and observational technique, but Bell was the first to notice the pulsar signal. This controversial omission has inspired references to the award as the 'No-Bell' prize.“ [4]
Es war wohl nicht Frauenfreundlichkeit allein, die Hoyle die Nobelpreisvergabe kritisieren ließ. Er mochte vor allem Ryle nicht, der den Urknall bevorzugte, während Hoyle dem statischen Universum anhing. Vielleicht hat es ihn um den eigenen Nobelpreis gebracht. „Daß Hoyle übergangen wurde, ist eine der größten Ungerechtigkeiten in der Geschichte des Nobelpreises. Das Komitee brüskierte Hoyle vor allem, weil er sich über die Jahre mit seiner unverblümten Art zahlreiche Feinde gemacht hatte. Zum Beispiel hatte er sich lautstark beschwert, als der Nobelpreis für Physik 1974 für die Entdeckung der Pulsare vergeben wurde. Er räumte ein, daß die Entdeckung dieser pulsierenden Sterne ein wichtiger Durchbruch war, empörte sich jedoch, weil der Preis nicht mit der jungen Astronomin Jocelyn Bell geteilt wurde, der die entscheidenden Beobachtungen gelungen waren.“ [5]
Auch wenn der Nobelpreis an vielen Männern wie Hoyle vorbeiging und Verbrecher einen für den Frieden erhielten, ist die Frauenquote weiterhin sehr gering, was natürlich auch der Tatsache geschuldet ist, daß Frauen es in derartige Höhen auch heute nur selten schaffen. Deshalb ist der Nobelpreis kein guter Maßstab für die Gleichberechtigung. Werden Frauen nicht nominiert oder gehen trotzdem leer aus, zeigt dies allenfalls, daß die Männer im Vergabekomitee Frauen den Ruhm vorenthalten, ohne ihn selbst einheimsen zu können. Die Kollegen der übergangenen Frauen haben ihn zwar im gutmeinenden Wortsinne geerntet, aber nicht gestohlen, wie die Überschrift von [1] suggeriert.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Couper, Henbest: Die Geschichte der Astronomie. Frederking & Thaler Verlag München, 2007. Seite 251.
[3] Bennett, Donahue, Schneider, Voit: Astronomie ‒ Die kosmische Perspektive. Pearson Studium, 5. Auflage 2010. Seite 835.
[4] Carroll, Ostlie: An Introduction to Modern Astrophysics. Addison Wesley, San Francisco, 2. Auflage, 2007. Seite 587.
[5] Simon Singh: Big Bang ‒ Der Ursprung des Kosmos und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft. Büchergilde Gutenberg, 2005, Seite 409.
Chien-Shiung Wu | Rosalind Franklin | Lise Meitner
Obwohl sie in der zugehörigen Veröffentlichung an zweiter Stelle genannt ist, erhielt neben Antony Hewish nicht sie den Nobelpreis, sondern der Institutsleiter Martin Ryle, der zuvor Grundlagen der Radioteleskopie schuf. Jocelyn Bell war in den Augen des Nobelkomitees nur eine mit Datenauswertung beschäftigte Doktorandin. „'Die Daten kamen auf Tabellenblättern heraus', erklärt sie. 'Damals gab es nur sehr, sehr wenige Computer, stattdessen ließ man die Ergebnisse einfach durch uns Absolventen auswerten.' […] Viele Forscher hätten diese Signale als technische Störung abgetan. Aber Bell und Hewish waren erstklassige Wissenschaftler, die es genau wissen wollten.“ [2]
Vom Nobelpreis abgesehen haben Männer nicht den größten Ruhm eingefahren. In einem Lehrbuch für Studenten steht Jocelyn Bell unter der Überschrift „Wie wurden Neutronensterne entdeckt?“ ganz vorne: „Die ersten Beobachtungshinweise auf Neutronensterne stammen aus dem Jahr 1967, als eine 24‑jährige Doktorandin namens Jocelyn Bell eine seltsame Radioquelle entdeckte. Bell hatte ihren Betreuer, Anthony Hewish, beim Bau eines Radioteleskopes unterstützt, […] Nachdem sie andere Möglichkeiten ausgeschlossen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass irgendwo aus der Nähe des Sternbilds Schwan (Cygnus) gepulste Radiostahlung empfangen wurde. Die Intervalle betrugen genau 1,337301 Sekunden.“ [3]
Auch die Bibel der Astrophysik widmet sich nicht nur der Entdeckung, sondern in einer Fußnote auch der Kontroverse: „In 1974 Hewish was awarded a share of the Nobel Prize, along with Martin Ryle, for their work in radio astronomy. Fred Hoyle and others have argued that Jocelyn Bell should have shared the prize as well; Hewish had designed the radio array and observational technique, but Bell was the first to notice the pulsar signal. This controversial omission has inspired references to the award as the 'No-Bell' prize.“ [4]
Es war wohl nicht Frauenfreundlichkeit allein, die Hoyle die Nobelpreisvergabe kritisieren ließ. Er mochte vor allem Ryle nicht, der den Urknall bevorzugte, während Hoyle dem statischen Universum anhing. Vielleicht hat es ihn um den eigenen Nobelpreis gebracht. „Daß Hoyle übergangen wurde, ist eine der größten Ungerechtigkeiten in der Geschichte des Nobelpreises. Das Komitee brüskierte Hoyle vor allem, weil er sich über die Jahre mit seiner unverblümten Art zahlreiche Feinde gemacht hatte. Zum Beispiel hatte er sich lautstark beschwert, als der Nobelpreis für Physik 1974 für die Entdeckung der Pulsare vergeben wurde. Er räumte ein, daß die Entdeckung dieser pulsierenden Sterne ein wichtiger Durchbruch war, empörte sich jedoch, weil der Preis nicht mit der jungen Astronomin Jocelyn Bell geteilt wurde, der die entscheidenden Beobachtungen gelungen waren.“ [5]
Auch wenn der Nobelpreis an vielen Männern wie Hoyle vorbeiging und Verbrecher einen für den Frieden erhielten, ist die Frauenquote weiterhin sehr gering, was natürlich auch der Tatsache geschuldet ist, daß Frauen es in derartige Höhen auch heute nur selten schaffen. Deshalb ist der Nobelpreis kein guter Maßstab für die Gleichberechtigung. Werden Frauen nicht nominiert oder gehen trotzdem leer aus, zeigt dies allenfalls, daß die Männer im Vergabekomitee Frauen den Ruhm vorenthalten, ohne ihn selbst einheimsen zu können. Die Kollegen der übergangenen Frauen haben ihn zwar im gutmeinenden Wortsinne geerntet, aber nicht gestohlen, wie die Überschrift von [1] suggeriert.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Couper, Henbest: Die Geschichte der Astronomie. Frederking & Thaler Verlag München, 2007. Seite 251.
[3] Bennett, Donahue, Schneider, Voit: Astronomie ‒ Die kosmische Perspektive. Pearson Studium, 5. Auflage 2010. Seite 835.
[4] Carroll, Ostlie: An Introduction to Modern Astrophysics. Addison Wesley, San Francisco, 2. Auflage, 2007. Seite 587.
[5] Simon Singh: Big Bang ‒ Der Ursprung des Kosmos und die Erfindung der modernen Naturwissenschaft. Büchergilde Gutenberg, 2005, Seite 409.
Chien-Shiung Wu | Rosalind Franklin | Lise Meitner
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Lise Meitner
wuerg, 03.04.2018 19:37
Viele Menschen wurden und werden als Frau oder homosexuell, wegen ihres Aussehens oder Herkunft benachteiligt. Hinzu kommen widrige Umstände, die jedem widerfahren können. Auch sie können als Diskriminierung ausgeben werden, wenn man nicht gerade cis-heterosexueller weißer Mann ist. Wer anhand von Einzelschicksalen eine Lanze für Frauen brechen will, kann schlecht zu uninteressanten, unbedeutenden oder gar unbekannten Beispielen greifen. Da müssen auch Wissenschaftlerinnen her, an denen wie an so manchem Mann der Nobelpreis vorbeiging, weil sie in Ermangelung weiterer Frauen von Männern eingeheimst wurden, die weibliche Leistungen vorsätzlich verschwiegen.
Bereits zweimal zitierte ich einen Artikel [1] dieser Kategorie. Zum einen zu Chien-Shiung Wu auf Platz 7, die leider nur experimentell nachwies, was andere zuvor zumindest für möglich hielten. Zum anderen Rosalind Franklin auf Platz 1, die durch eine Röntgenaufnahme zur Verbesserung einer mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Theorie beitrug. In beiden Fällen hätte es sich gehört, den Anteil dieser Frauen für jederman hörbar zu würdigen. Das versäumt zu haben, kann den durch die Nobelpreise berühmten Männern vorgeworfen werden. Man kann aber auch den Allmächtigen anklagen, Rosalind Franklin bereits im Alter von 37 Jahren abberufen zu haben.
Mit Lise Meitner auf Platz 5 ist es ganz anders. Sie hat über zwei Weltkriege hinweg mit Otto Hahn gearbeitet. Er verhalf im Sommer 1938 der Protestantin jüdischer Eltern zur Flucht nach Schweden. Ein halbes Jahr später entdeckte er zusammen mit Fritz Straßmann die Kernspaltung. Zunächst informierte er nur Lise Meitner, ein nicht ungefährliches Unterfangen. [2] Sie lieferte sofort eine Erklärung. [3] Den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1944 erhielt Otto Hahn. Nicht nur Lise Meitner und ihr Neffe und Mitarbeiter Otto Frisch gingen leer aus, auch Fritz Straßmann und erneut ein fünftes Rad am Wagen: Die Chemikerin Ida Noddack, die bereits 1934 die falsche Entdeckung von Transuranen bezweifelte und gegen den Zeitgeist eine Kernspaltung für möglich hielt.
Was den Nobelpreis betrifft hatte Lise Meitner trotz vieler Nominierungen Pech gehabt, führte aber ein langes und zufriedenes Leben in Freundschaft mit Otto Hahn. In der Wikipedia kann man nachlesen, daß sie nie mit der Entscheidung des Nobelpreiskomitees haderte. Ohne ihre Flucht hätte sie nach dem Krieg zusammen mit Otto Hahn den Nobelpreis entgegennehmen oder im Konzentrationslager enden können. Die Mär von der jüdischen Pazifistin, die durch einen Nazi um ihren Ruhm gebracht wurde, ist eine verbreitete und auch in [1] wieder einmal abgeschriebene feministische Lüge. Die Überschrift „Lise Meitner entdeckte die Kernspaltung“ setzt noch einen drauf. Das ist grottenfalsch. Sie hatte aber einen vorbereitenden Anteil an der Entdeckung und erklärte die Kernspaltung, mit der ihr Name auf ewig verbunden bleiben wird.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Otto Hahn und Fritz Straßmann: Über den Nachweis und das Verhalten der bei der Bestrahlung des Urans mittels Neutronen entstehenden Erdalkalimetalle. Naturwissenschaften 27:11, 1939. Zitiert nach [3], S. 346 schrieb Hahn an Meitner: „Ich habe mit Strassmann verabredet, dass wir vorerst nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen.“
[3] Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen. Springer Spektrum, 2. Auflage 2013. Seite 346: „Meitner (mit O. Frisch) gelang es innerhalb von zwei Wochen, aus dem kurz vorher entdeckten Tröpfchen-Modell die noch heute gültige Deutung zu entwickeln.“
Jocelyn Bell Burnell | Rosalind Franklin | Chien‑Shiung Wu
Bereits zweimal zitierte ich einen Artikel [1] dieser Kategorie. Zum einen zu Chien-Shiung Wu auf Platz 7, die leider nur experimentell nachwies, was andere zuvor zumindest für möglich hielten. Zum anderen Rosalind Franklin auf Platz 1, die durch eine Röntgenaufnahme zur Verbesserung einer mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Theorie beitrug. In beiden Fällen hätte es sich gehört, den Anteil dieser Frauen für jederman hörbar zu würdigen. Das versäumt zu haben, kann den durch die Nobelpreise berühmten Männern vorgeworfen werden. Man kann aber auch den Allmächtigen anklagen, Rosalind Franklin bereits im Alter von 37 Jahren abberufen zu haben.
Mit Lise Meitner auf Platz 5 ist es ganz anders. Sie hat über zwei Weltkriege hinweg mit Otto Hahn gearbeitet. Er verhalf im Sommer 1938 der Protestantin jüdischer Eltern zur Flucht nach Schweden. Ein halbes Jahr später entdeckte er zusammen mit Fritz Straßmann die Kernspaltung. Zunächst informierte er nur Lise Meitner, ein nicht ungefährliches Unterfangen. [2] Sie lieferte sofort eine Erklärung. [3] Den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1944 erhielt Otto Hahn. Nicht nur Lise Meitner und ihr Neffe und Mitarbeiter Otto Frisch gingen leer aus, auch Fritz Straßmann und erneut ein fünftes Rad am Wagen: Die Chemikerin Ida Noddack, die bereits 1934 die falsche Entdeckung von Transuranen bezweifelte und gegen den Zeitgeist eine Kernspaltung für möglich hielt.
Was den Nobelpreis betrifft hatte Lise Meitner trotz vieler Nominierungen Pech gehabt, führte aber ein langes und zufriedenes Leben in Freundschaft mit Otto Hahn. In der Wikipedia kann man nachlesen, daß sie nie mit der Entscheidung des Nobelpreiskomitees haderte. Ohne ihre Flucht hätte sie nach dem Krieg zusammen mit Otto Hahn den Nobelpreis entgegennehmen oder im Konzentrationslager enden können. Die Mär von der jüdischen Pazifistin, die durch einen Nazi um ihren Ruhm gebracht wurde, ist eine verbreitete und auch in [1] wieder einmal abgeschriebene feministische Lüge. Die Überschrift „Lise Meitner entdeckte die Kernspaltung“ setzt noch einen drauf. Das ist grottenfalsch. Sie hatte aber einen vorbereitenden Anteil an der Entdeckung und erklärte die Kernspaltung, mit der ihr Name auf ewig verbunden bleiben wird.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Otto Hahn und Fritz Straßmann: Über den Nachweis und das Verhalten der bei der Bestrahlung des Urans mittels Neutronen entstehenden Erdalkalimetalle. Naturwissenschaften 27:11, 1939. Zitiert nach [3], S. 346 schrieb Hahn an Meitner: „Ich habe mit Strassmann verabredet, dass wir vorerst nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen.“
[3] Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen. Springer Spektrum, 2. Auflage 2013. Seite 346: „Meitner (mit O. Frisch) gelang es innerhalb von zwei Wochen, aus dem kurz vorher entdeckten Tröpfchen-Modell die noch heute gültige Deutung zu entwickeln.“
Jocelyn Bell Burnell | Rosalind Franklin | Chien‑Shiung Wu
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Altachtundsechziger
wuerg, 02.04.2018 16:19
Wenn Höcke von versifften Altachtundsechzigern spricht, dann meint er damit nicht nur weltfremde Linke der sechziger Jahre, die in gammeliger Kleidung umherliefen und keinen produktiven Beitrag zu unserer Gesellschaft leisteten. Wenn der mir auf den Wecker gehende Konstantin auf linksgrünversiffter altachtundsechziger Gutmensch erhöht, obwohl es damals weder Grüne noch Gutmenschen gab, dann entlarvt sich der Altachtundsechziger als Worthülse. Und wenn dazu Slomka dem die konservative Revolution ausrufenden Dobrindt vorwirft, sich an den Altachtundsechzigern abzuarbeiten, dann fragt man sich schon, was ein Altachtundsechziger denn ist, ob er vornehmlich als Witzfigur taugt, die nur noch erinnert wird, weil der aktuelle linke Mainstream bedeutungsloser Neunundachtziger ohne theoretische Hinterlassenschaft geblieben ist.
Für mich ist ein Altachtundsechsziger stets das gewesen, woran ich knapp vorbeigerutscht bin. Er hat 1968 studiert, wurde also um 1945 geboren und glaubte an die Weltrevolution. Leider bin ich etwas jünger und war nur Lehrling. Ich darf mich aber ohne den Zusatz "alt" als Achtundsechziger sehen, weil wir Seit an Seit mit den Studenten den Kampf gegen das Establishment geführt haben und ich mich nicht scheue, die Umbrüche dieser Zeit nach dem Jahr 1968 zu bezeichnen. Manche mögen meinen, 67 sei richtiger, alles habe noch viel früher begonnen, Studentenbewegung oder gar -revolte sei die bessere Bezeichnung, wenn nicht mit Protestbewegung auch den Proletariern Rechnung getragen werden soll.
Wenn heute über die damaligen Zeiten gesprochen wird, dann zumeist von Leuten, die deutlich jünger sind, eher aus der Generation 89, die es eigentlich nur wegen der 180-Grad-Drehung der 68 gibt. Sie bestehen aus mindestens zwei Gruppen: Den sog. Rechten, die sich selbst als Pragmatiker sehen, und den Linken mit dem Arsch an der Wand, denen es gewaltbereit und ohne geistige Ergüsse eigentlich nur um sich selbst ging. Beide haben den Marsch durch die Institutionen hinter sich. Einige wurden wie Dobrindt konservative Revolutionäre, andere sind vom Baumhaus an der Startbahn in eine Altbauwohnung gezogen und bilden den linken Mainstraem, die meisten blieben herzlich desinteressiert. Mit der Generation Praktikum wird nichts besseres nachkommen.
Die Generation 89 ist gerechte Folge der Achtundsechziger. Nach ihrem Jahrzehnt des Protestes gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, das System, die Unterdrückung war der Geist der westlichen Welt ein anderer. Doch schon nach einem weiteren Jahrzehnt der Gewalt waren in den achtziger Jahren viele auf ihrem Marsch durch die Institutionen angekommen und zogen eine Generation von Hedonisten mit Tischtennisabitur, Basisnote zwei und Golf heran. Die Mehrheit völlig unpolitisch, eine linke Minderheit selbstverliebt und gewaltbereit. Wer heute von seiner linken Vergangenheit faselt, ist zumeist kein achtundsechziger Besserwisser im Rentenalter. Er muß noch zehn bis zwanzig Jahre arbeiten, und vergessen sind die Zeiten seines Widerstandes, den man heute eher Lifestyle nennen würde.
Ich bin froh, deutlich älter zu sein. Wir haben uns damals für vieles begeistert, daran geglaubt und auch einiges verändert. Nicht alles wendete sich zum Guten. Wir haben den Schah von Persien verachtet. Es brachte uns Khomeini und den heutigen Iran. Wir hatten jede Woche im Spiegel verfolgt, was Che Guevara in den bolivianischen Wäldern vollbrachte. Heute wissen wir, es war nichts. Wir glaubten an das jugoslawische Modell. Heute wissen wir, daß es keine Jugoslawen gibt. Wir schmierten Wände gegen die Notstandgesetze voll. Und heute weiß keiner mehr, in welchem bedeutungslosen Gesetz sie unterkamen.
Auch damals mußte man nicht alles mitmachen, ich jedenfalls nicht. Als Biafra unabhängig werden wollte, überwogen meine Zweifel an der Redlichkeit. Die sexuelle Revolution ging an mir vorüber und erbrachte überzogene sexuelle Früherziehung bis hin zur Pädophilie der Altgrünen, um den Zusatz "alt" wieder einmal abwertend zu verwenden. Und man mußte nicht Gewalt gutheißen, die im Namen des Klassenkampfes ausgeübt wurde, von klammheimlicher Freude ganz zu schweigen. Auch für gemeine Ladendiebe, die offen mit ihrer Systemschädigung prahlten, hatte ich kein Verständnis. Sie waren nur zu feige, Kaufhäuser anzuzünden, wie es in Frankfurt vor genau 50 Jahren am 2. April 1968 geschah.
Für mich ist ein Altachtundsechsziger stets das gewesen, woran ich knapp vorbeigerutscht bin. Er hat 1968 studiert, wurde also um 1945 geboren und glaubte an die Weltrevolution. Leider bin ich etwas jünger und war nur Lehrling. Ich darf mich aber ohne den Zusatz "alt" als Achtundsechziger sehen, weil wir Seit an Seit mit den Studenten den Kampf gegen das Establishment geführt haben und ich mich nicht scheue, die Umbrüche dieser Zeit nach dem Jahr 1968 zu bezeichnen. Manche mögen meinen, 67 sei richtiger, alles habe noch viel früher begonnen, Studentenbewegung oder gar -revolte sei die bessere Bezeichnung, wenn nicht mit Protestbewegung auch den Proletariern Rechnung getragen werden soll.
Wenn heute über die damaligen Zeiten gesprochen wird, dann zumeist von Leuten, die deutlich jünger sind, eher aus der Generation 89, die es eigentlich nur wegen der 180-Grad-Drehung der 68 gibt. Sie bestehen aus mindestens zwei Gruppen: Den sog. Rechten, die sich selbst als Pragmatiker sehen, und den Linken mit dem Arsch an der Wand, denen es gewaltbereit und ohne geistige Ergüsse eigentlich nur um sich selbst ging. Beide haben den Marsch durch die Institutionen hinter sich. Einige wurden wie Dobrindt konservative Revolutionäre, andere sind vom Baumhaus an der Startbahn in eine Altbauwohnung gezogen und bilden den linken Mainstraem, die meisten blieben herzlich desinteressiert. Mit der Generation Praktikum wird nichts besseres nachkommen.
Die Generation 89 ist gerechte Folge der Achtundsechziger. Nach ihrem Jahrzehnt des Protestes gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, das System, die Unterdrückung war der Geist der westlichen Welt ein anderer. Doch schon nach einem weiteren Jahrzehnt der Gewalt waren in den achtziger Jahren viele auf ihrem Marsch durch die Institutionen angekommen und zogen eine Generation von Hedonisten mit Tischtennisabitur, Basisnote zwei und Golf heran. Die Mehrheit völlig unpolitisch, eine linke Minderheit selbstverliebt und gewaltbereit. Wer heute von seiner linken Vergangenheit faselt, ist zumeist kein achtundsechziger Besserwisser im Rentenalter. Er muß noch zehn bis zwanzig Jahre arbeiten, und vergessen sind die Zeiten seines Widerstandes, den man heute eher Lifestyle nennen würde.
Ich bin froh, deutlich älter zu sein. Wir haben uns damals für vieles begeistert, daran geglaubt und auch einiges verändert. Nicht alles wendete sich zum Guten. Wir haben den Schah von Persien verachtet. Es brachte uns Khomeini und den heutigen Iran. Wir hatten jede Woche im Spiegel verfolgt, was Che Guevara in den bolivianischen Wäldern vollbrachte. Heute wissen wir, es war nichts. Wir glaubten an das jugoslawische Modell. Heute wissen wir, daß es keine Jugoslawen gibt. Wir schmierten Wände gegen die Notstandgesetze voll. Und heute weiß keiner mehr, in welchem bedeutungslosen Gesetz sie unterkamen.
Auch damals mußte man nicht alles mitmachen, ich jedenfalls nicht. Als Biafra unabhängig werden wollte, überwogen meine Zweifel an der Redlichkeit. Die sexuelle Revolution ging an mir vorüber und erbrachte überzogene sexuelle Früherziehung bis hin zur Pädophilie der Altgrünen, um den Zusatz "alt" wieder einmal abwertend zu verwenden. Und man mußte nicht Gewalt gutheißen, die im Namen des Klassenkampfes ausgeübt wurde, von klammheimlicher Freude ganz zu schweigen. Auch für gemeine Ladendiebe, die offen mit ihrer Systemschädigung prahlten, hatte ich kein Verständnis. Sie waren nur zu feige, Kaufhäuser anzuzünden, wie es in Frankfurt vor genau 50 Jahren am 2. April 1968 geschah.
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Rosalind Franklin
wuerg, 01.04.2018 19:48
Vorgestern sah ich einen Artilel über elf Frauen, denen der Ruhm von Männern gestohlen wurde. [1] Nach der Physikerin Chien-Shiung Wu will ich mich nun der Nummer eins der Liste zuwenden, der Biochemikerin Rosalind Franklin. Meine Beweggründe sind ambivalent. Auf der einen Seite halte ich es für erforderlich, die wissenschaftlichen Leistungen von Frauen hervorzuheben. Auf der anderen möchte ich für mich klären, inwiefern sie wirklich wegen ihres Geschlechtes Opfer von Männern oder einfach nur des Zeitgeistes wurden. Um das ganze Ausmaß und den durch Diskriminierung der halben Bevölkerung entgangenen Fortschritt zu ermessen, müßte man vor allem etwas über Frauen wissen, die heute keiner mehr kennt.
Rosalind Franklin hatte viele Röntgenaufnahmen gemacht, möglicherweise auch die als Nr. 51 bekannt gewordene der DNA, die ohne ihr Wissen durch Maurice Wilkins [2] in die Hände von James Watson und Francis Crick geriet, woraufhin die beiden ihre Theorie der DNA entscheidend verbessern konnten und alle drei Männer 1970 den Nobelpreis erhielten. Rosalind Franklin ging unnominiert leer aus und wurde in der Nobelpreisrede nicht einmal erwähnt. Zwar war sie im Alter von nur 37 Jahren bereits verstorben, doch konnten damals auch Tote den Nobelpreis erhalten.
Ähnlich wie im Falle von Chien-Shiung Wu haben die männlichen Theoretiker die Ehre eingeheimst. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, daß dies auf Kosten einer Frau geschah. Insbesondere im Falle des Jungspundes Watson, der vielleicht wirklich Angst vor erfolgreichen Frauen hatte. Aber ihm ist es auch zu verdanken, im Laufe seines langen, noch andauernden Lebens mit der Wahrheit herausgerückt zu sein. Heute sind die Nobelpreise vergessen. [3] Nach Rosalind Franklin aber sind viele Einrichtungen benannt, darunter eine Universität.
Als fünftes Rad an Wagen richtig vergessen ist Raymond Gosling, ein Doktorand von Rosalind Franklin, der als eigentlicher Urheber der sagenumwobenen Aufnahme Nr. 51 gilt. Frau hin oder her, auch damals schon ernteten die Professor*innen den Ruhm der Doktorand*innen. Schaut man sich zu den fünf Namen die Google-Treffer an, so gewinnt natürlich James Watson, weil er das Buch „Die Doppelhelix“ schrieb und als streitbarer Mensch das Internetzeitalter ereichte. In Gegenzuge ist der deutsche Wikipedia-Eintrag zu Rosalind Franklin so lang wie die zu den vier Männern zusammen.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Weniger die Angst vor Diebstahl, mehr die Torschlußpanik und die Reputation vieler Veröffentlichungen verleitet Wissenschaftler dazu, jeden Gedanken, jedes Meßergebnis zu publizieren, zumindest an zahlreiche Kollegen zu versenden, wobei die Restangst bleibt, andere könnten darauf aufbauen, schneller oder besser sein und den Ruhm einheimsen. Wie eine Weitergabe von Ergebnissen zu bewerten ist, hängt auch von der Weiterverarbeitung ab. So gilt Wilkins als Verräter, weil die Nutznießer ihre Quelle lange Zeit verschwiegen. Als Stephen Hawking starb, sah ich in einem Film, wie er Fred Hoyle scharf kritisieren konnte, weil Roger Penrose ihm vorab Einblick in dessen Vortragsmanuskript gewährte. War das ebenfalls Verrat?
[3] Der Nobelpreis von Watson mag noch erinnert werden, weil seine Medaille als einzige zu Lebzeiten für mehrere Millionen versteigert wurde.
Jocelyn Bell Burnell | Lise Meitner | Chien‑Shiung Wu
Rosalind Franklin hatte viele Röntgenaufnahmen gemacht, möglicherweise auch die als Nr. 51 bekannt gewordene der DNA, die ohne ihr Wissen durch Maurice Wilkins [2] in die Hände von James Watson und Francis Crick geriet, woraufhin die beiden ihre Theorie der DNA entscheidend verbessern konnten und alle drei Männer 1970 den Nobelpreis erhielten. Rosalind Franklin ging unnominiert leer aus und wurde in der Nobelpreisrede nicht einmal erwähnt. Zwar war sie im Alter von nur 37 Jahren bereits verstorben, doch konnten damals auch Tote den Nobelpreis erhalten.
Ähnlich wie im Falle von Chien-Shiung Wu haben die männlichen Theoretiker die Ehre eingeheimst. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, daß dies auf Kosten einer Frau geschah. Insbesondere im Falle des Jungspundes Watson, der vielleicht wirklich Angst vor erfolgreichen Frauen hatte. Aber ihm ist es auch zu verdanken, im Laufe seines langen, noch andauernden Lebens mit der Wahrheit herausgerückt zu sein. Heute sind die Nobelpreise vergessen. [3] Nach Rosalind Franklin aber sind viele Einrichtungen benannt, darunter eine Universität.
Als fünftes Rad an Wagen richtig vergessen ist Raymond Gosling, ein Doktorand von Rosalind Franklin, der als eigentlicher Urheber der sagenumwobenen Aufnahme Nr. 51 gilt. Frau hin oder her, auch damals schon ernteten die Professor*innen den Ruhm der Doktorand*innen. Schaut man sich zu den fünf Namen die Google-Treffer an, so gewinnt natürlich James Watson, weil er das Buch „Die Doppelhelix“ schrieb und als streitbarer Mensch das Internetzeitalter ereichte. In Gegenzuge ist der deutsche Wikipedia-Eintrag zu Rosalind Franklin so lang wie die zu den vier Männern zusammen.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft - den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Weniger die Angst vor Diebstahl, mehr die Torschlußpanik und die Reputation vieler Veröffentlichungen verleitet Wissenschaftler dazu, jeden Gedanken, jedes Meßergebnis zu publizieren, zumindest an zahlreiche Kollegen zu versenden, wobei die Restangst bleibt, andere könnten darauf aufbauen, schneller oder besser sein und den Ruhm einheimsen. Wie eine Weitergabe von Ergebnissen zu bewerten ist, hängt auch von der Weiterverarbeitung ab. So gilt Wilkins als Verräter, weil die Nutznießer ihre Quelle lange Zeit verschwiegen. Als Stephen Hawking starb, sah ich in einem Film, wie er Fred Hoyle scharf kritisieren konnte, weil Roger Penrose ihm vorab Einblick in dessen Vortragsmanuskript gewährte. War das ebenfalls Verrat?
[3] Der Nobelpreis von Watson mag noch erinnert werden, weil seine Medaille als einzige zu Lebzeiten für mehrere Millionen versteigert wurde.
Jocelyn Bell Burnell | Lise Meitner | Chien‑Shiung Wu
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Chien-Shiung Wu
wuerg, 31.03.2018 23:41
Wer sich über die Physikerin Chien-Shiung Wu informieren will, kann ein Lexikon zur Hand nehmen oder in der Wikipedia lesen. Hier erwähne ich sie, weil sie in einem aktuellen Artikel als siebte von elf Frauen gelistet ist, deren Ruhm Männer ernteten. [1] Es soll nicht geleugnet werden, daß Frauen bis in die Gegenwart benachteiligt werden. Und ganz sicher sind viele vergessen, weil ihre Entdeckungen von Männern publiziert, wiederentdeckt, patentiert oder gestohlen wurden. Doch das haben sie nicht nur mit Frauen, auch mit anderen Männern gemacht. In der Wissenschaft sind es weniger die Feministen, sondern die Wissenschaftler selbst, vielleicht besonders die weiblichen unter ihnen, die zur Würdigung vergangener und aktueller Leistungen beitragen. [2]
Im Falle von Chien-Shiung Wu besteht das Unrecht nur in der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1957 an Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yang, die eine Paritätsverletzung für möglich hielten, die im Jahre 1956 von Chien-Shiung Wu nachgewiesen wurde. Mehr als heute ging damals ein Nobelpreis an die Theoretiker, aber nur wenn ihre Theorie bestätigt wurde. So erhielt Stephen Hawkings keinen. Albert Einstein auch nicht für die Relativitätstheorie. Das mag man der allgemeinen Ungerechtigkeit des Nobelkomitees zurechnen, insbesondere gegenüber Frauen.
Es ist aber keineswegs so, daß Chien-Shiung Wu vergessen ist. Ich habe ein Buch über Elementarteilchen aus dem Regal gezogen. [3] Auf Seite 543 ist zu lesen: „Yang und Lee konnten aber belegen, daß bei diesen Erfahrungen bzw. Prüfungen auf Spiegelsymmetrie die Prozesse der Schwachen Wechselwirkung (v.a. die β‑Radioaktivität) noch nie genauer betrachtet worden waren. Sie konnten auch realisierbare Experimente vorschlagen, um diese Lücke zu schließen. Allein für diese qualifizierte Anzweifelung einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit oder eines Denkverbots erhielten die beiden schon 1957 den Nobelpreis ‒ gleich nachdem die Experimente von C.S. Wu ihnen Recht gegeben hatten.“
Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob Wu nur eines der von Lee und Yang vorgeschlagenen Experimente durchgeführt hat. In jedem Falle ist ihr Name in etwas geblieben, was weit mehr erinnert wird als ein Nobelpreis, nämlich dem Wu‑Experiment. Und so folgen der kurzen Erwähnung der Beteiligten zwei volle Seiten unter der Überschrift „Das Wu‑Experiment: β⁻‑Strahlen werden bevorzugt entgegen der Spinrichtung ausgesandt“.
Auch im geschichtlichen Abschnitt zur Paritätsverletzung habe ich nichts von deren Entdeckung bereits im Jahre 1928 gefunden. Die Wikipedia behauptet, dies sei damals als Meßfehler abgetan worden. Es wäre doch eine schöne Aufgabe der Gerechtigkeitsforschung, diese Behauptung genau zu beleuchten, wenn es nicht bereits geschehen ist. Wahrscheinlich wurde hier ein Mann um die Würdigung seiner Leistungen gebracht, wie viele vor ihm, die etwas entdeckten, für das die Zeit noch nicht reif war oder was schlicht in Vergessenheit geriet. Die meisten kennen wir sicherlich nicht.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft ‒ den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Wendland, Werner (Hrg.): Facettenreiche Mathematik. Vieweg+Teubner, 2011.
[3] Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen. Springer Spektrum, 2. Auflage 2013.
Jocelyn Bell Burnell | Lise Meitner | Rosalind Franklin
Im Falle von Chien-Shiung Wu besteht das Unrecht nur in der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1957 an Tsung-Dao Lee und Chen Ning Yang, die eine Paritätsverletzung für möglich hielten, die im Jahre 1956 von Chien-Shiung Wu nachgewiesen wurde. Mehr als heute ging damals ein Nobelpreis an die Theoretiker, aber nur wenn ihre Theorie bestätigt wurde. So erhielt Stephen Hawkings keinen. Albert Einstein auch nicht für die Relativitätstheorie. Das mag man der allgemeinen Ungerechtigkeit des Nobelkomitees zurechnen, insbesondere gegenüber Frauen.
Es ist aber keineswegs so, daß Chien-Shiung Wu vergessen ist. Ich habe ein Buch über Elementarteilchen aus dem Regal gezogen. [3] Auf Seite 543 ist zu lesen: „Yang und Lee konnten aber belegen, daß bei diesen Erfahrungen bzw. Prüfungen auf Spiegelsymmetrie die Prozesse der Schwachen Wechselwirkung (v.a. die β‑Radioaktivität) noch nie genauer betrachtet worden waren. Sie konnten auch realisierbare Experimente vorschlagen, um diese Lücke zu schließen. Allein für diese qualifizierte Anzweifelung einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit oder eines Denkverbots erhielten die beiden schon 1957 den Nobelpreis ‒ gleich nachdem die Experimente von C.S. Wu ihnen Recht gegeben hatten.“
Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob Wu nur eines der von Lee und Yang vorgeschlagenen Experimente durchgeführt hat. In jedem Falle ist ihr Name in etwas geblieben, was weit mehr erinnert wird als ein Nobelpreis, nämlich dem Wu‑Experiment. Und so folgen der kurzen Erwähnung der Beteiligten zwei volle Seiten unter der Überschrift „Das Wu‑Experiment: β⁻‑Strahlen werden bevorzugt entgegen der Spinrichtung ausgesandt“.
Auch im geschichtlichen Abschnitt zur Paritätsverletzung habe ich nichts von deren Entdeckung bereits im Jahre 1928 gefunden. Die Wikipedia behauptet, dies sei damals als Meßfehler abgetan worden. Es wäre doch eine schöne Aufgabe der Gerechtigkeitsforschung, diese Behauptung genau zu beleuchten, wenn es nicht bereits geschehen ist. Wahrscheinlich wurde hier ein Mann um die Würdigung seiner Leistungen gebracht, wie viele vor ihm, die etwas entdeckten, für das die Zeit noch nicht reif war oder was schlicht in Vergessenheit geriet. Die meisten kennen wir sicherlich nicht.
[1] Jessica Samakow: Diese 11 Frauen haben Bahnbrechendes geschafft ‒ den Ruhm ernteten Männer. Huffington Post, 31.03.2018. Link inzwischen ungültig.
[2] Wendland, Werner (Hrg.): Facettenreiche Mathematik. Vieweg+Teubner, 2011.
[3] Jörn Bleck-Neuhaus: Elementare Teilchen. Springer Spektrum, 2. Auflage 2013.
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Türkische Feinkost
wuerg, 27.03.2018 00:25
Nach einem Streit an der Kasse gehe ich nicht mehr in den einzigen gammeligen Supermarkt. Sofern ich nicht in die Stadt fahre, bleibt mir nur der türkische Gemüsehändler. Mit seiner räumlichen Vergrößerung, einem Besitzerwechsel und der Außenwerbung "Feinkost" wurden Obst und Gemüse nicht frischer, auf die Feinkost warte ich noch. Ich hätte gerne ein umfangreicheres Angebot gesehen, auch einen höheren Umsatz, der verderblicher Ware entgegenkommt.
Da man mit immer dem gleichen Betreiber oder Besitzer mehr Worte wechselt als mit einer Kassiererin im Supermarkt, hätte ich gerne ein paar Hinweise aus deutscher Sicht gegeben. Um Empfindlichkeiten wissend habe ich zunächst nur gefragt, ob dies oder das denn umsonst sei, weil sich kein Preisschild an der Ware befinde. Später habe ich dann auch darauf aufmerksam gemacht, daß Deutsche nach Preisschild kaufen und Ware ohne Auszeichnung meiden. Es hat sich etwas gebessert, obwohl ich nicht mehr nachgehakt habe.
Als Zwetschgen ihre Zeit hatten, verkaufte er sie zu 1,99 das Pfund. Wieder vorsichtig fragte ich durch die Blume, wieviel denn ein türkisches Pfund wiege. Natürlich 500 Gramm war die Antwort. Irgendwann habe ich mich zu dem Hinweis durchgerungen, daß Pfund in Deutschland keine zulässige Einheit mehr sei und dies bei einem Besuch der Gewerbeaufsicht sofort bemerkt würde. Nach einer Weile wurde das Pfund zu 500 Gramm. Irgendwann konnte ich der Tochter erklären, daß loses Obst in Kilogramm auszuzeichnen sei.
Nicht daß der Eindruck entsteht, ich würde arme türkische Gemüsehändler durch deutsche Nörgelei nerven. Er freut sich zumindest äußerlich, wenn ich bei ihm einkaufe und hat mir auch schon "warte alter Mann" hinterhergerufen, um mir noch einen Bonbon auf den Weg mitzugeben. Deutsche Wurstverkäuferinnen neigen mehr zu "junger Mann". Aber in der Türkei genießt der Alte ein höheres Ansehen.
Heute steht in der gähnenden Leere des immer noch nicht erweiterten Angebotes ein Ständer mit Strümpfen. Wieder vorsichtig fragte ich, ob es Feinkoststrümpfe seien. Nach leichtem Hin und Her von Mißverständnissen wurde er laut und wies darauf hin, daß andere Lebensmittelgeschäfte ja auch alles mögliche verkaufen. Ich mußte ihn beruhigen. Mangelde Humorerkennung auf deutsch allein kann es nicht gewesen sein. Ich glaube an eine tiefsitzende Empfindlichkeit, die sich auch der Türken bemächtigt hat.
Nachdem ich mich heute beherrscht und aus Rücksicht auf Fremde eine Kontroverse vermieden habe, fühle ich mich derart unwohl, daß ich den ganzen Mist hier aufschreiben muß und mir überlege, ob ich die Besuche "beim Türken" einschränken und auch seine Waren in der Stadt kaufen sollte. Vielleicht verinnerlicht er eines Tages, daß der Kunde König ist, man als Verkäufer nie laut wird, Waren vorschriftsmäßig auszeichnet, verdorbenes Obst aus dem Regal nimmt und Feinkost drinnen führt, wenn es draußen draufsteht.
Da man mit immer dem gleichen Betreiber oder Besitzer mehr Worte wechselt als mit einer Kassiererin im Supermarkt, hätte ich gerne ein paar Hinweise aus deutscher Sicht gegeben. Um Empfindlichkeiten wissend habe ich zunächst nur gefragt, ob dies oder das denn umsonst sei, weil sich kein Preisschild an der Ware befinde. Später habe ich dann auch darauf aufmerksam gemacht, daß Deutsche nach Preisschild kaufen und Ware ohne Auszeichnung meiden. Es hat sich etwas gebessert, obwohl ich nicht mehr nachgehakt habe.
Als Zwetschgen ihre Zeit hatten, verkaufte er sie zu 1,99 das Pfund. Wieder vorsichtig fragte ich durch die Blume, wieviel denn ein türkisches Pfund wiege. Natürlich 500 Gramm war die Antwort. Irgendwann habe ich mich zu dem Hinweis durchgerungen, daß Pfund in Deutschland keine zulässige Einheit mehr sei und dies bei einem Besuch der Gewerbeaufsicht sofort bemerkt würde. Nach einer Weile wurde das Pfund zu 500 Gramm. Irgendwann konnte ich der Tochter erklären, daß loses Obst in Kilogramm auszuzeichnen sei.
Nicht daß der Eindruck entsteht, ich würde arme türkische Gemüsehändler durch deutsche Nörgelei nerven. Er freut sich zumindest äußerlich, wenn ich bei ihm einkaufe und hat mir auch schon "warte alter Mann" hinterhergerufen, um mir noch einen Bonbon auf den Weg mitzugeben. Deutsche Wurstverkäuferinnen neigen mehr zu "junger Mann". Aber in der Türkei genießt der Alte ein höheres Ansehen.
Heute steht in der gähnenden Leere des immer noch nicht erweiterten Angebotes ein Ständer mit Strümpfen. Wieder vorsichtig fragte ich, ob es Feinkoststrümpfe seien. Nach leichtem Hin und Her von Mißverständnissen wurde er laut und wies darauf hin, daß andere Lebensmittelgeschäfte ja auch alles mögliche verkaufen. Ich mußte ihn beruhigen. Mangelde Humorerkennung auf deutsch allein kann es nicht gewesen sein. Ich glaube an eine tiefsitzende Empfindlichkeit, die sich auch der Türken bemächtigt hat.
Nachdem ich mich heute beherrscht und aus Rücksicht auf Fremde eine Kontroverse vermieden habe, fühle ich mich derart unwohl, daß ich den ganzen Mist hier aufschreiben muß und mir überlege, ob ich die Besuche "beim Türken" einschränken und auch seine Waren in der Stadt kaufen sollte. Vielleicht verinnerlicht er eines Tages, daß der Kunde König ist, man als Verkäufer nie laut wird, Waren vorschriftsmäßig auszeichnet, verdorbenes Obst aus dem Regal nimmt und Feinkost drinnen führt, wenn es draußen draufsteht.
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Mathematik des Islam
wuerg, 25.03.2018 18:14
Wenn man die Flutung Deutschlands mit großenteils zivilisationsfernen Menschen nicht vollumfänglich für erforderlich hält, informiert man sich zwangsläufig auch dort, wo rechtes Gedankengut nicht gerade fern ist. Neben den Verschwörungstheorien trifft man auf die traditionelle Europafeindlichkeit. Es gibt keinen Klimawandel, Autoabgase schaden nicht, Trump ist gut für die Welt. Die Achse des Guten halte ich in diesem Spektrum für einigermaßen moderat. Daß auch sie die gegenwärtige aggressive und von sehr vielen Moslems gelebte Ausprägung des Islam als Hauptquelle des Übels erkannt hat, berechtigt aber nicht, alles gering zu schätzen, was mit dem Islam im Zusammenhang steht.
Dort widerspricht Paul Nellen [1] der gängigen Auffassung, der Islam hätte die antike Kultur über das Mittelalter gerettet. Zurecht rüttelt er an der schöngeistigen Vorstellung, der Islam habe aus sich heraus in seinem ersten Jahrtausend im Rahmen einer Hochkultur auch das Wissen der Antike bewahrt und fortentwickelt, denn in Wirklichkeit hat er nur große Teile der Welt erobert [2] und in diesem Rahmen wie jede andere Großmacht auch große kulturelle Leistungen hervorgebracht. Die Römer waren nicht friedlicher und auch keine großen Geister. Trotzdem oder deshalb blicken wir heute auf ihre Bauwerke, nicht auf die eines kleinen gallischen Dorfes.
Natürlich wäre ohne den Islam die Antike ebenfalls bewahrt worden, selbst von Katholiken des Mittelalters, die vieles nur unter Verschluß hielten. Auch mögen fromme Moslems ganze Bibliotheken niedergebrannt haben. Doch haben sie auch viel Gedankengut erobert und käuflich erworben. Anderes ist in ihrem großen Reich einfach nur gewandert, wie die arabischen Zahlen von Indien nach Europa und letztlich in die ganze Welt. Die eigenen Leistungen mögen aus heutiger Sicht nicht so berauschend sein, aber das waren sie im Rest der Welt noch viel weniger.
Wie es um die Dichtkunst, die Musik, die Malerei oder Kalligrafie bestellt war, entzieht sich noch mehr meiner Kenntnis als die Geschichte der Naturwissenschaften vom Ende der Antike bis zum Beginn der Neuzeit. [3] Wirkliche Fortschritte waren mühsam. Was durch Nachdenken und einfache Naturbeobachtung zu ergründen ist, war durch Euklid, Aristoteles und andere mehr oder minder korrekt ausgeschöpft. Eine geeignete Sprache der Wissenschaft gab es nicht. Alles wurde blumenreich beschrieben, allgemeines Geschwurbel überdeckte gute Gedanken. Glaube jedweder Art behinderte, weniger durch Verfolgung, mehr durch Vernebelung des Geistes. Er beförderte aber auch Erkenntnisse und Fähigkeiten, die seiner Herrschaft förderlich waren. Und mancher forschte auch zur Ehre Gottes.
Kurz: Es ist ungerecht, die unter islamischer Herrschaft erbrachten geistigen Leistungen klein zu reden, nur weil wir uns heute noch von der Unbarmherzigkeit des Islam bedroht fühlen dürfen, der die Moslems zwingt, die Ungläubigen mit der gleichen Gnadenlosigkeit zu unterwerfen und auszurotten wie sie selbst ihrem Gott ausgeliefert sind und sich ihm ergeben müssen. Ohne sie wäre es anders, doch nicht unbedingt besser gekommen. Die frühen Moslems müßten wissenschaftlich noch nicht einmal dann hinter ihren Zeitgenossen verstecken, wenn sie nur erobert, gekauft, gesammelt, übersetzt und verbreitet hätten. Ihr Pech besteht darin, daß in der Renaissance lateinische Übersetzungen leichter zu lesen waren als arabische.
In seinem Buch zur Geschichte der Mathematik [4] überschreibt Hans Wußing 41 Seiten mit "Mathematik in den Ländern des Islam". Dort nennt er viele Mathematiker, die auch wegen der merkwürdigen Namen kaum einer kennt. Besonders herausgestellt wird Al-Hwarizmi, nach dessen al-gabr die moderne Algebra benannt ist. Es folgen immerhin noch 36 Seiten zur "Mathematik im Europäischen Mittelalter" mit Namen, die heute auch keiner mehr kennt. Und auf Seite 276 kommt er zu dem Schluß: "Bei aller Anerkennung für die eigenständigen Leistungen in der Mathematik des Frühmittelalters bleibt doch die historische Tatsache, dass der eigentliche Aufschwung der euopäischen Mathematik kausal an die Bekanntschaft mit der islamischen Mathematik gebunden war, ..."
Eine Aufgabe für Schüler: Berechne mit Papier und Bleistift den Sinus von einem Grad in Taschenrechner-Genauigkeit. Da das 120-Eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, und Al-Kashi Quadratwurzeln ziehen konnte, kannte er den Sinus von 3 Grad sehr genau. Für eine Sinus-Tafel von Grad zu Grad hat er den 3-Grad-Winkel gedrittelt und den Sinus von einem Grad auf Basis einer Gleichung dritten Grades aus dem Wert für 3 Grad iterativ, also mit einem Al-gorithmus auf 18 Stellen berechnet. Seine 14 Stellen für π hielten fast 200 Jahre den Rekord. Wer hätte heute dafür die Kenntnisse und den Fleiß?
[1] Paul Nellen: Hat der Islam und die antike Kultur und Wissenschaft gebracht? Achgut, 22.03.2018.
[2] Bill Warner: Stimmt das mit den unzähligen Kreuzzügen gegen den Islam? Youtube, "genug ist genug", 07.05.2017. Original vom Center for the Study of Political Islam?
[3] Die Wikipedia sieht das Mittelalter vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Für mich endet die Antike mit der Schließung der Platonischen Akademie im Jahre 529. Die Neuzeit beginnt mit dem modernen Buchdruck im Jahre 1450.
[4] Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik. Band 1: Von den Anfängen bis Leibniz und Newton. Springer, Berlin Heidelberg 2008.
Pi | Alhazen
Dort widerspricht Paul Nellen [1] der gängigen Auffassung, der Islam hätte die antike Kultur über das Mittelalter gerettet. Zurecht rüttelt er an der schöngeistigen Vorstellung, der Islam habe aus sich heraus in seinem ersten Jahrtausend im Rahmen einer Hochkultur auch das Wissen der Antike bewahrt und fortentwickelt, denn in Wirklichkeit hat er nur große Teile der Welt erobert [2] und in diesem Rahmen wie jede andere Großmacht auch große kulturelle Leistungen hervorgebracht. Die Römer waren nicht friedlicher und auch keine großen Geister. Trotzdem oder deshalb blicken wir heute auf ihre Bauwerke, nicht auf die eines kleinen gallischen Dorfes.
Natürlich wäre ohne den Islam die Antike ebenfalls bewahrt worden, selbst von Katholiken des Mittelalters, die vieles nur unter Verschluß hielten. Auch mögen fromme Moslems ganze Bibliotheken niedergebrannt haben. Doch haben sie auch viel Gedankengut erobert und käuflich erworben. Anderes ist in ihrem großen Reich einfach nur gewandert, wie die arabischen Zahlen von Indien nach Europa und letztlich in die ganze Welt. Die eigenen Leistungen mögen aus heutiger Sicht nicht so berauschend sein, aber das waren sie im Rest der Welt noch viel weniger.
Wie es um die Dichtkunst, die Musik, die Malerei oder Kalligrafie bestellt war, entzieht sich noch mehr meiner Kenntnis als die Geschichte der Naturwissenschaften vom Ende der Antike bis zum Beginn der Neuzeit. [3] Wirkliche Fortschritte waren mühsam. Was durch Nachdenken und einfache Naturbeobachtung zu ergründen ist, war durch Euklid, Aristoteles und andere mehr oder minder korrekt ausgeschöpft. Eine geeignete Sprache der Wissenschaft gab es nicht. Alles wurde blumenreich beschrieben, allgemeines Geschwurbel überdeckte gute Gedanken. Glaube jedweder Art behinderte, weniger durch Verfolgung, mehr durch Vernebelung des Geistes. Er beförderte aber auch Erkenntnisse und Fähigkeiten, die seiner Herrschaft förderlich waren. Und mancher forschte auch zur Ehre Gottes.
Kurz: Es ist ungerecht, die unter islamischer Herrschaft erbrachten geistigen Leistungen klein zu reden, nur weil wir uns heute noch von der Unbarmherzigkeit des Islam bedroht fühlen dürfen, der die Moslems zwingt, die Ungläubigen mit der gleichen Gnadenlosigkeit zu unterwerfen und auszurotten wie sie selbst ihrem Gott ausgeliefert sind und sich ihm ergeben müssen. Ohne sie wäre es anders, doch nicht unbedingt besser gekommen. Die frühen Moslems müßten wissenschaftlich noch nicht einmal dann hinter ihren Zeitgenossen verstecken, wenn sie nur erobert, gekauft, gesammelt, übersetzt und verbreitet hätten. Ihr Pech besteht darin, daß in der Renaissance lateinische Übersetzungen leichter zu lesen waren als arabische.
In seinem Buch zur Geschichte der Mathematik [4] überschreibt Hans Wußing 41 Seiten mit "Mathematik in den Ländern des Islam". Dort nennt er viele Mathematiker, die auch wegen der merkwürdigen Namen kaum einer kennt. Besonders herausgestellt wird Al-Hwarizmi, nach dessen al-gabr die moderne Algebra benannt ist. Es folgen immerhin noch 36 Seiten zur "Mathematik im Europäischen Mittelalter" mit Namen, die heute auch keiner mehr kennt. Und auf Seite 276 kommt er zu dem Schluß: "Bei aller Anerkennung für die eigenständigen Leistungen in der Mathematik des Frühmittelalters bleibt doch die historische Tatsache, dass der eigentliche Aufschwung der euopäischen Mathematik kausal an die Bekanntschaft mit der islamischen Mathematik gebunden war, ..."
Eine Aufgabe für Schüler: Berechne mit Papier und Bleistift den Sinus von einem Grad in Taschenrechner-Genauigkeit. Da das 120-Eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, und Al-Kashi Quadratwurzeln ziehen konnte, kannte er den Sinus von 3 Grad sehr genau. Für eine Sinus-Tafel von Grad zu Grad hat er den 3-Grad-Winkel gedrittelt und den Sinus von einem Grad auf Basis einer Gleichung dritten Grades aus dem Wert für 3 Grad iterativ, also mit einem Al-gorithmus auf 18 Stellen berechnet. Seine 14 Stellen für π hielten fast 200 Jahre den Rekord. Wer hätte heute dafür die Kenntnisse und den Fleiß?
[1] Paul Nellen: Hat der Islam und die antike Kultur und Wissenschaft gebracht? Achgut, 22.03.2018.
[2] Bill Warner: Stimmt das mit den unzähligen Kreuzzügen gegen den Islam? Youtube, "genug ist genug", 07.05.2017. Original vom Center for the Study of Political Islam?
[3] Die Wikipedia sieht das Mittelalter vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Für mich endet die Antike mit der Schließung der Platonischen Akademie im Jahre 529. Die Neuzeit beginnt mit dem modernen Buchdruck im Jahre 1450.
[4] Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik. Band 1: Von den Anfängen bis Leibniz und Newton. Springer, Berlin Heidelberg 2008.
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