Hausaufgaben, Teil 4
Da die Schüler der achten Klasse angesichts des Viereckes natür­lich vom Dreieck nichts mehr wußten, wurden ihnen zur häus­lichen Auf­frischung die vier Kon­gruenz­sätze für Dreiecke diktiert. Ich wüßte ich gerne, was das soll. Einmal abgesehen davon, daß meine Tochter nach Gehör "Konkruents" geschrieben hatte, ist es genau der falsche Weg, diese Sätze in einer verqueren Schul­sprache aufzu­schreiben, wenn man sie lernen, verstehen und anwenden will [1]. Wer es nicht glaubt, der sehe sie sich in der Wikipedia [2] an, wo sie noch recht schlicht for­muliert sind. Der Königs­weg zeigt genau in die ent­gegen­gesetzte Rich­tung: Man verin­ner­licht den simplen Sach­verhalt und kann sofort alles anwenden. Will man zusätz­lich die Sätze im Schul­deutsch nieder­schreiben, muß man sich allerdings ein paar Über­ein­künfte merken, die wie so oft zum Inhalt nichts beitragen.

Der schlichte Sach­verhalt, den es zu ver­stehen oder notfalls zu merken gilt, lautet: Von den drei Seiten und den drei Winkeln des Dreieckes reichen im allge­meinen drei Angaben aus, um daraus ein Dreieck zu kon­struie­ren. In der Folge sind zwei Dreiecke, die in dreien dieser sechs Ele­mente (Seiten und Winkel) überein­stimmen, kongruent. Und wer zu dieser Einsicht gelangt ist, dem werden auch drei Kleinig­keiten ein­leuchten: Drei Winkel nützen nichts, weil jeweils zwei den dritten bestim­men, alle Größen müssen sich im gleichen Dreh­sinn ent­sprechen, und in einem Fall kann es zu Doppel­deutig­keiten kommen. So ausge­stattet kann man sich auch auf einer ein­samen Insel wieder alle vier Kongruenz­sätze über­legen, ohne gleich mit Zweit­namen Archi­medes zu heißen. Wahr­scheinlich kommt man dann auf fünf statt vier Sätze und nume­riert sie anders, doch an der Sache ändert sich dadurch nichts:

Ein Winkel fehlt immer. Die restlichen Ele­mente (drei Seiten und zwei Winkel) bezeichne ich in ihrer Reihen­folge mit SWSWS. Es gibt 5 über 3, also 10 Möglich­keiten, drei Elemente aus diesen fünfen auszu­wählen:
S W S W S   Typ   #
-------------------
S W S . .   SWS   2   
S W . W .   SWW   3   
S W . . S   SSW   4
S . S W .   SSW   4
S . S . S   SSS   1
S . . W S   SSW   4
. W S W .   WSW   3
. W S . S   SSW   4
. W . W S   SWW   3
. . S W S   SWS   2
Da man Dreiecke drehen und spiegeln [3] kann, redu­zieren sich diese zehn Fälle auf fünf Typen. In lexika­lischer Reihen­folge: SSS, SSW, SWS, SWW und WSW. Aber so sind sie in der Schule nicht numeriert. Dort heißen sie abgekürzt:
1. SSS            drei Seiten
2. SWS            zwei Seiten mit gemeinsamen Winkel
3. WSW (und SWW)  zwei Winkel mit gemeinsamer Seite [4]
4. SsW            Spezialfall
Manchmal sind auch Typ 2 und 3 vertauscht. Andere versuchen, ein moder­nes Aussehen zu errei­chen, indem alle W und S klein geschrieben werden und nur der vierte Typ mit Ssw bezeichnet wird. Die Zusammen­fassung zweier Fälle (WSW und SWW) zu einem ist reine Willkür. Sie soll verdeutlichen, daß man aus zwei Winkeln den dritten konstru­ieren [5] kann, womit SWW auf WSW zurück­geführt ist. Am affen­geilsten aber ist die Bezeich­nung SsW, die verdeut­lichen soll, daß am einen Eckpunkt der Seite s eine größere Seite S hängt und sich am anderen Eckpunkt der Winkel W befindet. Wäre S nicht größer als s, könnte es zwei Möglich­keiten geben, und die Kongruenz wäre dahin. Eigentlich das einzig Interes­sante an der ganzen Angele­genheit.

[1] Auch ich erläutere hier die Kongruenz­sätze nicht in Bildern oder durch leicht verständ­liche Worte, denn es geht hier nicht darum, sie zu erlernen und mög­lichst effektiv im Klein­hirn zu verankern, sondern um eine Kritik an ihrer Dar­stellung in der Schule, die mäßige Schüler abschreckt und von den mathe­matisch begabten ignoriert wird.

[2] Die Wikipedia listet SSS, WSW, SWS und SsW. Die Fälle SWW und WWS werden als aus WSW abge­leitet klassi­fiziert. Um SWW und WWS als nur einen Fall zu betrachten, muß lediglich die Spiegelung [3] bemüht werden. Die Rück­führung auf WSW [4] aber ist reine Willkür.

[3] Es ist korrekt, sich zur Rück­führung des Falles WWS auf SWW (und auch WsS auf SsW) sich beide Dreiecke gespiegelt zu denken, aber es ist nicht erlaubt, die Angaben im einen Dreieck links und in dem anderen rechts herum zu inter­pretieren, weil dann normaler­weise keine Kongruenz mehr gegeben ist. Diese Tat­sache wird auch gerne mit sprach­lichen Zusätzen wie "entsprechende Seiten" berück­sichtigt. Nur wird es dadurch nicht klarer.

[4] Die Zusammen­fassung von WSW und SWW basiert darauf, daß die Winkel­summe im Dreieck immer 180 Grad ist und bei zwei gegebenen Winkeln der dritte sich ergibt. Dieses Argument fort­führend könnten die Kongruenzsätze 1 bis 3 auch zu einem einzigen zusam­mengefaßt werden. Aber mit den eigent­lich fünf verschie­denen Fällen werden auch eigene Konstruktions­verfahren verbunden. Und das ist bei SWW schwerer und origi­neller als im trivialen Fall WSW: Man nimmt eine beliebig lange Hilfsseite H, zeichnet SWHW und nutzt anschließend Parallel­verschiebung. Aus den gegebenen zwei Winkeln den dritten zu kon­stru­ieren [5], um auf WSW zurück­zuführen, ist der längere Weg.

[5] Bei einer richtigen Konstruktion mit Zirkel und Lineal sind die Ausgangs­größen zeich­nerisch gegeben, müssen also allein mit Zirkel und einem Lineal ohne jede Markierung ange­tragen werden. Praktischer­weise führt man Elemen­tar­operationen nicht immer wieder durch und trägt die gegebenen Elemente auch mit Winkel­messern oder Zentimeter­maßen an. Bedenklich aber wird es, wenn man sie zweimal anträgt oder gar Werte ausrechnet, was die Rück­führung von SWW auf WSW als einfach erscheinen läßt.

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