Wahlgerechtigkeit
Kein Wahlrecht kann oder will alle Menschen gleich oder gemäß ihres Wertes behan­deln. [1] So erscheint auch mir die Wahl des ameri­kani­schen Präsi­denten weniger gerecht als die unseres Kanz­lers. Es beginnt mit einem fehlenden Melde­wesen, einer Benach­teili­gung derer ohne Führer­schein oder Erlaub­nis, eine Waffe offen zu tragen, geht weiter mit der Ab­schreckung durch lange Schlan­gen vor den Wahl­lokalen und läßt die über­wie­gende Mehrheit ohne Würstchen und Kugel­schreiber stehen, weil nur die sog. Swing-​States umworben werden. Aber haben deshalb deren Einwohner tatsäch­lich mehr Einfluß auf das Ergebnis?

Eine Antwort auf diese Frage kann nicht gegeben werden, weil der ominöse Einfluß des einzelnen auf das Wahler­gebnis nicht bezif­fert werden kann. Fast immer hat keiner Einfluß in dem Sinne, daß seine Stimme ent­scheidet. Und sollte es innner­halb von Milli­arden Jahren tasäch­lich dazu kommen, ist er nur einer unter Milli­onen. Im Falle eines Patts in einem entschei­denden Bundes­staat wäre jeder Nicht­wähler entschei­dend, bei einer Stimme Vorsprung jeder Wähler der Mehr­heit.

Aber es geht ja gar nicht um den Einfluß eines einzelnen oder eine exakte Bezif­ferung, sondern um die vermu­teten oder postu­lierten Unter­schiede zwi­schen verschie­denen Gebieten oder gar Bevölke­rungs­gruppen. Man mag das ameri­kanische System der Präsi­denten­wahl mit ihren nor­maler­weise, aber nicht verbind­lich gemäß des Ergebnis ihres Staates abstim­menden, tatsäch­lich existie­renden Wahl­männern für unge­recht halten, doch berück­sichtigt unsere Kanzler­wahl wegen der zahl­losen Länder­listen, der Fünf­prozent­hürde und vor allem der Koali­tions­ver­hand­lungen den Wähler­willen nicht unbe­dingt stärker. Dazu genügt ein Blick auf die winzige FDP mit ihrem seit Bestehen der Repu­blik über­mäßigen sich auch in Posten nieder­schla­genden Einfluß.

Die Wahl des amerikanischen Präsidenten ist dagegen vergleichs­weise simpel. Es geht prak­tisch nur um eine einzige Entschei­dung zwischen zwei Kandi­daten und in jedem Staat nur um die ein­fache Mehr­heit. Wäre es noch simpler und ent­schiede die ein­fache Mehr­heit aller, dann wäre ich bereit, meinen Einfluß wie folgt zu defi­nieren: Die Wahr­schein­lich­keit, daß ohne mich eine Patt­situa­tion ein­träte, wenn die anderen gleich­verteilt zufäl­lig wählen. Bei n=2k+1 Wäh­lern gibt es unter den 2^(2k) Mög­lich­keiten der anderen p=(2k über k) Patt­situa­tionen, woraus sich der Einfluß e=p/n ergibt.
 n   k       p   2^(2k)  Einfluß e  e*sqrt(n)
---------------------------------------------
 3   1       2        4  0,5        0,8660254
 5   2       6       16  0,375      0,8385255
 7   3      20       64  0,3125     0,8267973
 9   4      70      256  0,2734375  0,8203125
11   5     252     1024  0,2460938  0,8162006
13   6     924     4096  0,2255859  0,8133617
15   7    3432    16384  0,2009473  0,8112841
17   8   12870    65536  0,1963806  0,8096980
19   9   48620   262144  0,1854706  0,8084475
21  10  184756  1048576  0,1761970  0,8074363
Offensichtlich sinkt der Einfluß mit der Anzahl der Wähler, doch nicht so sehr, wie man erwarten könnte. Es wäre ja auch blöd, jedem ein­fach 1/n zuzu­schreiben. Die letzte Spalte konver­giert gegen 0,79788456. Das ist die Wurzel aus 2/π und ergibt sich aus der Stirling­formel.

Wenn es nur wenige Staaten unter­schied­licher Größe mit gleichen oder diffe­rie­renden Stimm­ge­wich­ten (Wahl­männer) gibt, muß eine etwas kompli­zier­tere Über­legung auf höherer Ebene nach­geschal­tet werden, um den Einfluß der Wähler eines jeden Staates zu ermitteln. Wer der hier ausge­brei­teten Ansicht von Einfluß folgt, wird die Gewichte derart vertei­len wollen, auf daß den Wäh­lern verschie­dener Staaten der unter­schied­liche Einfluß ausge­glichen wird. Bei wenigen Staaten ist das nur einge­schränkt möglich. Bei derart vielen Staaten wie den ameri­kanischen kann man aber zurecht erwarten, daß ein Gewicht gemäß der Wurzel der Wähler- oder Ein­wohner­zahl zu einem einiger­maßen gleich­mäßigem Einfluß führt.

Ich will jetzt nicht alle Staaten durch­kauen, deshalb nur die mit A begin­nenden. Die nach­stehende Über­sicht zeigt die Ein­woh­ner n in Millionen. Danach die Zahl der Sitze nach dem „Quadrat­wurzel­gesetz“. Der Fak­tor 4 ist so gewählt, daß sich in der Summe die in der letzten Spalte aufge­führten 29 Sitze im Kongreß ergeben. Doch daran orien­tieren sich die Amerikaner nicht, sondern weisen jedem Staat zwei Sitze im Senat und auf etwa 700.000 einen Sitz im Reprä­sen­tanten­haus zu. [2] Daraus errech­nen sich die Anzahlen unter der Über­schrift 2+10n/7, die auf ganze Zahlen gerundet tatsäch­lich der Anzahl der Wahl­männern ent­sprechen.
Staat       n  4·sqrt(n) 2+10n/7 Sitze
--------------------------------------
Alabama    4,8     8,7     8,8     9
Alaska     0,7     3,4     3,0     3
Arizona    6,4    10,1    11,1    11
Arkansas   2,9     6,8     6,2     6
Sofern man das Quadratwurzelgesetz für gerecht hält, werden Staaten zwi­schen 0,65 und 2,15 Mil­li­onen Einwoh­nern leicht benach­tei­ligt, klei­nere und grö­ßere bevor­zugt [3]. Da es aber auch dem unmittel­baren Gerech­tig­keits­gefühl ent­spricht, jedem Ein­wohner das gleiche Gewicht zu geben, sind die aktu­ellen Wahl­männer­zahlen gar nicht schlecht. Bei einer Reform sollte man einfach die Zwei­stufig­keit streichen, zumin­dest für die Wahl des Präsi­denten.

[1] Das mag den weniger geneigten Leser empören. Doch sollte nicht vergessen werden, daß auch in Deutsch­land keine Kinder und nur ausge­wählte oder gar keine Aus­länder wählen dürfen. Eini­gen wurden auch die sog. bürger­lichen Ehren­rechte aber­kannt, andere werden durch Quoten oder Sonder­regeln bevorzugt. Nicht nur Frauen, auch der SSW oder seiner­zeit die nicht zur BRD gehö­renden Berliner.

[2] Die Zahl 700.000 habe ich so gewählt, daß sich in der Summe die 29 Sitze der vier Staaten ergeben. Wer daraus für die gesam­ten USA 0,70976·(538-100-3)=308,75 Mil­io­nen Einwohner in den 50 Staa­ten ohne D.C. und ande­ren Sonder­gebieten errech­net, möge berück­sich­tigen, daß die Bevöl­kerung inzwi­schen gewach­sen ist. Für Corona gehe ich von 329,1 Mil­li­onen aus.

[3] Selbst der Winz-Staat Wyoming am Ende des Alpha­betes mit nur 0,6 Mil­li­onen Ein­woh­nern käme in beiden Berech­nungen auf drei Sitze, müßte also nicht die Sonder­regel über minde­stens einen Abgeord­neten in Anspruch nehmen. Als Republi­kaner würde ich mich für das Quadrat­wurzel­gesetz stark machen, weil Kali­for­nien nach den oben­stehen­den Berech­nungen nur auf 24 statt 55 käme. Nach Anglei­chung der Summen viel­leicht auf 30, maxi­mal 35.

Quadratwurzelgesetz | Medaillenspiegel

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