Gefühlte Temperatur
Im Höllensomer des Jahrtausends gab es einen Tag mit 37 Grad Celsius und hoher Luft­feuch­tigkeit. Früher hätte man dieses Wetter einfach schwül [1] genannt, doch statt­dessen las ich von 67 Grad als ‚gefühl­ter‘ Tempe­ratur. So ein Schwach­sinn, denn trotz aller körper­licher Bela­stung trug ich keine Verbren­nungen davon.

Ich frug mich, nach welcher willkür­lichen Auffas­sung man dazu kommt und fand bei einer Google-​Suche ganz oben eine Tabelle von wetter.com, aus der ich hier nur die vier äußeren Ecken angebe:
relative      Temperatur
Luftfeuchte   28°C  40°C
   30 %       29°C  47°C 
   90 %       41°C  71°C
Wahrscheinlich paßten normale und tiefe Tempe­raturen schlecht ins Propa­ganda­bild. Und natürlich habe ich nirgendwo eine Formel gesehen, gemäß der die gefühlte Tempe­ratur berechnet wird. Das hätte die Trivia­lität offen­kundig gemacht. So griff ich zu einem schlichten Ansatz und kam auf

G = T + (5/3)⋅(T−16°C)⋅φ − 5°C

Darin ist G die gefühlte, T die wahre Temperatur und φ die relative Luft­feuchtig­keit. Tatsäch­lich ergibt sich für T=37°C und φ=100% eine gefühlte Tempe­ratur von 37+(5/3)⋅(37−16)−5​=67 Grad Celsius. Das ist so schwach­sinnig wie −10° bei 60% auf der Zugspitze mit −10+(5/3)⋅(−10−16)⋅0,6−5​=−41 Grad.

Der Herbst hat noch nicht begonnen, schon ist ein „grausam kalter“ Winter vorher­gesagt. Prompt sind die Tempe­raturen gefallen. Soeben lese ich 12° bei 77%. Das wären gefühlte 12+(5/3)⋅(12−16)⋅0,77−5​≈2 Grad Celsius. Doch war mir ohne Jacke nicht kalt und muß dem Google-Wetter zugute halten, nur 10 Grad als gefühlte Tempe­ratur behauptet zu haben. Wahr­schein­lich nach einer anderen politisch korrek­teren Berech­nung.

[1] Ich meine mich an Thermohygrometer mit sich kreu­zenden Zeigern zu erinnern, da im oberen Bereich schwül stand. Dieses Wort entstand wohl durch laut­liche Anpas­sung von schwul (drückend heiß) an kühl. Auf modernen Geräten habe ich es nicht mehr gefunden. Wer traute sich auch heute noch, sowas zu ver­kaufen?

Herbstanfang | gefühlte Realität

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Heute morgen 7° bei 96%. Nach der Formel also 7+(5/3)⋅(7−16)⋅0,96−5​=−12 Grad gefühlter Tempe­ratur. Google ist mit posi­tiven 4 Grad nicht ganz so brutal. Doch dank der Sehnsucht nach Abkühlung nach einem Höllen­sommer, noch ange­nehmer Boden- und Gebäude­tempera­turen sowie Wind­stille werden 7 Grad auf Basis verrin­gerter direkter Strah­lungs­wärme wegen stär­kerer Bewölkung eher als wärmer empfunden.

Daß nunmehr zu stark runter­gerechnet wird, ist die gerechte Strafe dafür, im Sommer hohe, ja aber­witzige gefühlte Tempe­raturen raus­hauen zu wollen. Sollte es im kommenden Winter tatsäch­lich sehr kalt werden, zahlt sich das natür­lich auch dahin­gehend aus, daß wahn­sinnige Tiefst­werte zu fühlen sein sollen. Die heute so beliebte Über­trei­bung führt im Ggenzuge leider dazu, daß an den 80 Pro­zent Normal­tagen die ange­gebene gefühlte Tempe­ratur als unzu­treffend gefühlt wird.

Aber egal. Wir leben ja in einer Zeit, da die Normalität im Sinne von Durch­schnitt oder Regel­fall mißachtet wird und vieles vom Extrem, vom Rand, von der Abartigkeit her betrachtet wird, deren Jünger pene­trant Norma­lität für sich fordern, die ihnen zuneh­mend auch zuge­sprochen wird. Noch nicht einmal eine andere Normalität, sondern eine wert­vollere, bis hin zur Selbst­verach­tung der Mehrheit.

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Dank sinkender Luftfeuchtigkeit hat die gefühlte Temperatur sich wieder erholt. Heute 14° bei 67% ergibt gefühlt 14+(5/3)⋅(14−16)⋅0,67−5​=7 Grad. Google ist sogar der Meinung, Gefühl und Realität stimmen überein. Mein Gefühl dagegen sagt: Es ist heute kälter als gestern. Egal: Auf keinen Fall ist es 10 Grad wärmer geworden.

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