Politspektrum
Ich teile gerne in Klassen oder ordne entlang einer Geraden an, weil es das Denken verein­facht und es auch nicht schadet, solange man die Gesamt­kom­plexität nicht aus den Augen verliert. Eine schöne Anor­dnung ist die von links nach rechts im poli­tischen Spektrum, obgleich auch andere Dimen­sionen ihre Berech­tigung haben. Da an beiden Enden tota­litäre Vorstel­lungen um sich greifen, ist eine zweite Dimen­sion von egalitär zu elitär beliebt. Dann ergibt sich ein dem Farb­raum ähnli­ches Bild. Die Spinner auf der Purpur­geraden zwischen den Extremen rot und blau.

Wie sieht das eindimen­sionale Polit­spektrum in Deutsch­land aus? Laut Wiki­pedia sehen sich die Deut­schen im Verhäl­tnis 34:52:11 als links, mittig bzw. rechts. Ordne ich den Linken ein reelles Inter­vall mit Mittel­wert -100, den Rechten eines mit Mittel­wert +100 zu und fülle den Bereich dazwi­schen mit der Mitte aus, so ergibt sich: Die Linken liegen bei -100±45, die Rechten bei +100±15 und die Mitte bei 15±70. Der normale Mensch sieht sich bei -15±65. Kurz gesagt: Die Hälfte rechnet sich der Mitte zu, und links sehen sich dreimal soviele wie rechts.

Die Wikipedia behauptet, 76, 39, 25 und 23 Prozent der Wähler von Grünen, SPD, CDU bzw. FDP hielten sich für links. Ein An­teil p an Linken bei -100 und 1-p anderen, also Nichtl­inken bei ((-100+45)+(100+15))/2=30 liefert eine Einord­nung der Parteien bei 30(1-p)-100p=30-130p, also -69 für die Grünen, -21 für die SPD, aber auch leicht linke -2,5 für die CDU und mit­tige +0,1 für die FDP. Ist das reali­stisch? Ja! Gewichte ich nämlich die Einstu­fungen mit dem Ergebnis der letzten Bundes­tagswahl, so kommt für diese vier Parteien ein Mittelwert von -17 heraus. Das liegt nur knapp links neben der mittleren Selbst­einschät­zung.

Ist es wirklich so? Kokettieren die Menschen nur mit linkem Gehabe? Ist der Anteil der Rechten nicht viel größer? Man mag es für meine Defini­tion von links und rechts nehmen, wenn ich beide Gruppen mit je einem Viertel der Gesell­schaft ansetze. Damit sind die Linken bei -100±33 und die Rechten bei +100±33. Die Mitte von -67 bis +67 liegt tatsäch­lich in der Mitte. Trägt man dann die Wahler­gebnisse von -133 bis 133 in der Reihen­folge Linke, Grüne, SPD, CDU, FDP, CSU, AfD auf, so zeigt sich ein realisti­scheres Bild.
                Grüne       SPD CDU FDP
         -100     |           |*  |0/                     100
|<---------L--------->|<---------------M-------------->|<--R-->|
   |<------L------>|<--------------M-------------->|<------R------>|
   |Linke|Grüne|     SPD     |       CDU       | FDP  |CSU|  AfD   |
In der Mitte gefühlte und realistische Verteilung auf links, Mitte und rechts
Darüber die gefühlte Einordnung der Wähler, darunter die Wahlergebnisse
links (-100), rechts (100), Mitte (0), mittlere Selbsteinschätzung (*)

Natürlich sind meine Ausgangszahlen mager. Ihr Haupt­nachteil ist, daß in der Wiki­pedia nur ange­geben ist, wieviele sich links einordnen, weil sie typischer­weise nach der rechten Seite wohl gar nicht gefragt wurden. Es verwun­dert auch nicht, daß die Wähler sich mode­rater ein­schät­zen als ihre Parteien wirklich sind. Deutlich zeigt sich das bei der FDP, die sich liberal gibt, aber rechts­konser­vativ ist. Vor allem belegt die Rechnung, was jeder­mann so und so weiß: Die Selbst­einschät­zung ist deutlich links­lastig im Vergleich mit einer arith­metisch ausge­wogenen Ver­tei­lung.

... comment

 
Nun als Kommentar, was ich unter der Über­schrift "Das Schweigen der Mitte" als eigen­stän­digen Beitrag veröf­fent­lichen wollte, dann jedoch ein Jahr gut abhängen ließ:

Die Deutschen sehen sich mehrheitlich deutlich links der Mitte. Entspäche das der Realität, wäre das Polit­spektrum links­lastig. Das sollte die Angst vor einem rechten Rand relati­vieren, dessen Erstarken dann eine natür­liche Aus­gleichs­bewegung dar­stellte. Doch die wahre poli­tische Mitte liegt nicht an der Grenze von SPD und CDU, wo der Durch­schnitts­mensch sich sieht, sondern mitten in der CDU.

Links ist zu einem Schlagwort verkommen. Es steht sehr allgemein für Fort­schritt­lichkeit, Gleich­heit, Aufge­schlos­senheit und Toleranz. Wer sich als links bezeichnet, aber nicht den Radikalen zurechnet, muß sich nicht verteidigen, er zeigt Haltung und hat recht. Wer dieser Selbst­gefällig­keit nicht zustimmt oder gar Zweifel äußert, läuft Gefahr als Rechter diffa­miert zu werden. Die meisten plappern mit oder werden sprachlos, zumal auch Gleich­gesinnte ihnen nicht zur Seite springen.

Es ist wie in der Türkei oder Polen. Die Gesell­schaft spaltet sich in annähernd gleich große Gruppen. Dort sind es natur­gemäß die Vertreter der Regierungs­meinung, die den anderen im Tone der Selbst­verständ­lichkeit begegnen, sie mundtot machen, bis auch sie selbst verstummen, es keinen Widerstand mehr zu brechen gilt und jede Äußerung falsch sein könnte. Man schweigt sich zu poli­tischen Themen aus, und es geht ein tiefer Riß durch die Gesell­schaft bis in die Familien.

In Deutschland übernimmt die Mehrheit derer, die links sind, sich dafür halten oder es schick finden, die Rolle der Ober­lehrer. Grund­sätzlich lehnen sie Bevor­mundung, vor allem Gewalt und Diskri­minie­rung ab, nehmen diese Bös­artig­keiten aber kritik­los hin, wenn es rechte Gesinnung zu ent­larven gilt. Manche folgen Menschen an die Wohnungs­tür, klatschen anti­deutschem Rassismus Beifall oder sagen: Ich habe nichts gegen dich, mein Baseball­schläger aber schon. Vor der Kunst-​Glatzen-​Mode hieß es: Haut die Glatzen, bis sie platzen.

Vielleicht werde ich von den Linken enttäuscht im Alter immer reaktio­närer. Viel­leicht bin ich aber auch nur stehen­geblieben, während die Gesell­schaft nach links an mir vorüberzog. Ich hoffe von der einset­zenden Gegen­bewegung nicht mitge­nommen zu werden. Die wird unsere sog. Volks­parteien nicht zu alter Größe führen. Die Grünen werden die SPD von links einquet­schen wie es zuvor die CDU von rechts tat. Und die CDU erhält nun die Quit­tung für den Dusel der Kanz­lerin. Deutlich ist in Ferseh­diskus­sionen zu erkennen, daß diese Banalitäten zuneh­mend ohne Sturm der Entrü­stung geäußert werden.

... link  


... comment