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Sommerzeit
wuerg, 02.09.2018 02:18
Es war noch keine 100 Jahre her, daß in Deutschland zur Vereinfachung des Bahnverkehrs die zeitliche Kleinstaaterei durch eine einheitliche Mitteleuropäische Zeit (MEZ) beendet wurde, da kamen auch bundesdeutsche Politiker auf den Trichter, der DDR nachzueifern und die um eine Stunde vorgehende Sommerzeit (MESZ) einzuführen, um damit den in Kriegszeiten eingeübten und von Nachbarn gepflegten Schwachsinn ins neue Jahrtausend zu retten. Der Grundgedanke bestand in der Hoffnung, die Menschen würden aus reiner Gewohnheit, aber auch durch Arbeitszeiten und Tagesschau genötigt im Sommer einfach eine Stunde früher aufstehen und an den lauen und langen Sommerabenden weniger Strom verbrauchen. Die erhoffte Ersparnis trat nicht ein. Die Menschen blieben nach der Tagesschau einfach eine Stunde länger sitzen. In früheren Zeiten, da um 18:30 der Supermarkt, um 22 Uhr die Küche und um 23 Uhr das Lokal schloß, hätte es vielleicht gefruchtet.
Ich erinnere mich noch an den ersten Wechsel zur Sommerzeit. Eine automatische Umstellung gab es nicht, den Rechnern waren Zeitfürze der gesamten Welt unbekannt. Ich wollte mich korrekt verhalten und habe zur Sommerzeit nicht die interne Uhr, sondern nur die Zeitzone umgestellt. Gefährdete Crontab-Einträge gab es nicht. Daß dadurch alte Dateien nicht mit der Winterzeit ihrer Erzeugung angezeigt wurden, war unerheblich oder gar erwünscht. Doch dauerte es nicht lange, bis die erste Schreibkraft sich über eine falsche Uhrzeit beklagte. Dem deutschen Textverarbeitungssystem ging die Zeitzone am Arsch vorbei. Es nahm selbstherrlich an, in einem Deutschland mit Mitteleuropäischer Zeit zu arbeiten und schlug der Unix-Zeit einfach eine Stunde zu. Also zurück zu quick an dirty. Sich Arbeit und Gedanken machen, vielleicht sogar systematisch vorzugehen, war wieder einmal für die Katz.
Zu dieser erstmaligen Umstellung weigerte sich mein Ortsvereinsvorsitzender, seine Uhr umzustellen, weil es der Regierung nicht zukäme, die Zeit zu ändern, auch nicht unter Helmut Schmidt. Ich war ebenfalls der Meinung, man hätte die Tagesschau auf 19 Uhr legen sollen, gewohnte anderthalb Stunden nach Ladenschluß dann um 17:30. Zur Erinnerung lasse ich noch heute auf meinem Funktelefon die Winterzeit durchlaufen. Faulheit führte wie so oft zu bequemen, auf den ersten Blick überlegenen Entscheidungen. Man wollte kein Gesetz ändern, keine Vorschrift jahreszeitenspezifisch gestalten und nutzte aus, daß überall stillschweigend von der gerade gültigen Uhrzeit ausgegangen wird. Dieses juristische Vergehen an der Zeit hat auch in Deutschland Tradition. [1]
Nachdem nun durch jahrelange Übung und Automatisierung die nächtlichen Probleme an den Tagen der Umstellung beherrscht werden, kommt man wieder zur Vernunft. Doch nicht vollständig. Statt zur Normalzeit zurückzukehren und sich durch Verschiebung von Uhrzeiten dem modernen Leben anzupassen, kommt es möglicherweise durch Ausdehnung der Sommerzeit auf das ganze Jahr zu einer dauerhaften Verlagerung nach Osten. Stand früher die Sonne in Hamburg auch erst um 12:20 am höchsten, wird es in Zukunft Sommers wie Winters sogar 13:20 sein. Noch eine Stunde bis zur Mekka-Zeit. [2] Ein Blick in den Ramadan-Kalender meines türkischen Gemüsehändlers belegt die Diskrepanz zur überkommenen 12‑Uhr-Noon-Vorstellung: Im laufenden Jahr 1439 war unter Ögle 13:30 plusminus zwei Minuten angegeben. Und ich fragte mich, wie ich seinerzeit mit meinem frommen Kommilitonen und seiner offenhaarigen Schwester um 20 Uhr ins Theater gehen konnte, wenn er erst beten mußte und wir dann noch in Ruhe seine vorbereiteten Speisen aßen? Es muß Mitte September gewesen sein. Doch in 14 Tagen geht die Sonne erst um 19:30 unter. Problemlösung: Es gab noch keine Sommerzeit!
Die Sommerzeit ganzjährig zu behalten und so dauerhaft in UTC+2 weit östlich der Ortszeit zu fallen, ist nicht nur moslemfeindlich. Es knüpft an die Jahre 1940 bis 1942 an und verletzt das Prinzip, die Zeitzone des Landmassenschwerpunktes zu wählen. So ist es in China vernünftig und eingeübt, nur eine Zeitzone zu haben. Bleiben aber die Spanier und Portugiesen im kontinentalen europäischen Verbund, dann liegen sie ganze zwei Stunden daneben. Ich hoffe, die Engländer werden bei ihrer Greenwich Mean Time (GMT) bleiben. Eine anständige Reform wäre, überall die Baryzentrische Dynamische Zeit TDB einzuführen. Dann würden die Uhren auf der ganzen Welt gegenwärtig ungefähr GMT anzeigen und der Schwachsinn mit der Datumsgrenze entfiele. Die Marsianer ohne Wohnsitz in einer Zeitzone hätten die gleiche Zeit. Sie könnten damit leben, daß 86400 Sekunden fast einem Erdentag entsprechen, der Marstag Sol aber 40 Minuten länger dauert. Und wer jetzt voreilig die englische weiße Kolonialzeit GMT ablehnt, möge bedenken: Der Längengrad, dessen Ortszeit mit der TDB übereinstimmt, wandert langsam um die Erde herum.
[1] Im ersten und zweiten Weltkrieg gab es bereits unregelmäßig eine Sommerzeit. Im Jahre 1947 sogar eine um zwei Stunden verschobene Hochsommerzeit. Damals mag die Umstellung der Uhr das an feste Zeiten gebundene Verhalten der Menschen noch mitgenommen haben.
[2] Soldt, Rüdiger: Mekka-Zeit aus Calw. FAZ, 15.02.2012.
Oktoberrevolution
Ich erinnere mich noch an den ersten Wechsel zur Sommerzeit. Eine automatische Umstellung gab es nicht, den Rechnern waren Zeitfürze der gesamten Welt unbekannt. Ich wollte mich korrekt verhalten und habe zur Sommerzeit nicht die interne Uhr, sondern nur die Zeitzone umgestellt. Gefährdete Crontab-Einträge gab es nicht. Daß dadurch alte Dateien nicht mit der Winterzeit ihrer Erzeugung angezeigt wurden, war unerheblich oder gar erwünscht. Doch dauerte es nicht lange, bis die erste Schreibkraft sich über eine falsche Uhrzeit beklagte. Dem deutschen Textverarbeitungssystem ging die Zeitzone am Arsch vorbei. Es nahm selbstherrlich an, in einem Deutschland mit Mitteleuropäischer Zeit zu arbeiten und schlug der Unix-Zeit einfach eine Stunde zu. Also zurück zu quick an dirty. Sich Arbeit und Gedanken machen, vielleicht sogar systematisch vorzugehen, war wieder einmal für die Katz.
Zu dieser erstmaligen Umstellung weigerte sich mein Ortsvereinsvorsitzender, seine Uhr umzustellen, weil es der Regierung nicht zukäme, die Zeit zu ändern, auch nicht unter Helmut Schmidt. Ich war ebenfalls der Meinung, man hätte die Tagesschau auf 19 Uhr legen sollen, gewohnte anderthalb Stunden nach Ladenschluß dann um 17:30. Zur Erinnerung lasse ich noch heute auf meinem Funktelefon die Winterzeit durchlaufen. Faulheit führte wie so oft zu bequemen, auf den ersten Blick überlegenen Entscheidungen. Man wollte kein Gesetz ändern, keine Vorschrift jahreszeitenspezifisch gestalten und nutzte aus, daß überall stillschweigend von der gerade gültigen Uhrzeit ausgegangen wird. Dieses juristische Vergehen an der Zeit hat auch in Deutschland Tradition. [1]
Nachdem nun durch jahrelange Übung und Automatisierung die nächtlichen Probleme an den Tagen der Umstellung beherrscht werden, kommt man wieder zur Vernunft. Doch nicht vollständig. Statt zur Normalzeit zurückzukehren und sich durch Verschiebung von Uhrzeiten dem modernen Leben anzupassen, kommt es möglicherweise durch Ausdehnung der Sommerzeit auf das ganze Jahr zu einer dauerhaften Verlagerung nach Osten. Stand früher die Sonne in Hamburg auch erst um 12:20 am höchsten, wird es in Zukunft Sommers wie Winters sogar 13:20 sein. Noch eine Stunde bis zur Mekka-Zeit. [2] Ein Blick in den Ramadan-Kalender meines türkischen Gemüsehändlers belegt die Diskrepanz zur überkommenen 12‑Uhr-Noon-Vorstellung: Im laufenden Jahr 1439 war unter Ögle 13:30 plusminus zwei Minuten angegeben. Und ich fragte mich, wie ich seinerzeit mit meinem frommen Kommilitonen und seiner offenhaarigen Schwester um 20 Uhr ins Theater gehen konnte, wenn er erst beten mußte und wir dann noch in Ruhe seine vorbereiteten Speisen aßen? Es muß Mitte September gewesen sein. Doch in 14 Tagen geht die Sonne erst um 19:30 unter. Problemlösung: Es gab noch keine Sommerzeit!
Die Sommerzeit ganzjährig zu behalten und so dauerhaft in UTC+2 weit östlich der Ortszeit zu fallen, ist nicht nur moslemfeindlich. Es knüpft an die Jahre 1940 bis 1942 an und verletzt das Prinzip, die Zeitzone des Landmassenschwerpunktes zu wählen. So ist es in China vernünftig und eingeübt, nur eine Zeitzone zu haben. Bleiben aber die Spanier und Portugiesen im kontinentalen europäischen Verbund, dann liegen sie ganze zwei Stunden daneben. Ich hoffe, die Engländer werden bei ihrer Greenwich Mean Time (GMT) bleiben. Eine anständige Reform wäre, überall die Baryzentrische Dynamische Zeit TDB einzuführen. Dann würden die Uhren auf der ganzen Welt gegenwärtig ungefähr GMT anzeigen und der Schwachsinn mit der Datumsgrenze entfiele. Die Marsianer ohne Wohnsitz in einer Zeitzone hätten die gleiche Zeit. Sie könnten damit leben, daß 86400 Sekunden fast einem Erdentag entsprechen, der Marstag Sol aber 40 Minuten länger dauert. Und wer jetzt voreilig die englische weiße Kolonialzeit GMT ablehnt, möge bedenken: Der Längengrad, dessen Ortszeit mit der TDB übereinstimmt, wandert langsam um die Erde herum.
[1] Im ersten und zweiten Weltkrieg gab es bereits unregelmäßig eine Sommerzeit. Im Jahre 1947 sogar eine um zwei Stunden verschobene Hochsommerzeit. Damals mag die Umstellung der Uhr das an feste Zeiten gebundene Verhalten der Menschen noch mitgenommen haben.
[2] Soldt, Rüdiger: Mekka-Zeit aus Calw. FAZ, 15.02.2012.
Oktoberrevolution
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