Spiegel
wuerg, 17.04.2006 21:20
Bei „Kluges und Scheiß“ [1] ging es vor ein paar Tagen auch um Spiegelbilder, wie sie jeder von alten Spiegelkommoden oder modernen Badezimmerschränken kennt, in denen man sich einfach, doppelt oder auch sehr oft gespiegelt, frei im Raum oder immer mit der Nase hinter den Scharnieren sehen kann. Das reizte mich zu der alten Frage, warum der Spiegel links und rechts vertauscht, nicht aber oben und unten, um sogleich die Physiklehrerantwort zu erhalten, daß er in Wirklichkeit nur vorne und hinten vertausche. Spontan beförderte mein Kleinhirn meine alte Verwunderung ins Wachbewußtsein, wie leicht sich Menschen doch mit wohlklingenden Begründungen zufrieden geben und mit welch' kurzatmigen Antworten sie sich selbst auf die Frage nach dem Sinn des Lebens abspeisen lassen.
Sicherlich wissen wir alle, daß der plane Spiegel eine Ebene definiert, an der alles vertauscht wird. Deshalb heißt diese Ebene auch Spiegelebene. Und wenn wir den Halbraum auf der spiegelnden Seite Vordergrund oder einfach vorne nennen, den auf der matten Rückseite aber Hintergrund oder einfach hinten, so bringt der Spiegel tatsächlich vorne nach hinten, auch wenn er an der Decke hängt. Schlägt man dann noch den Atlas mit einer Weltkarte auf, stellt einen Spiegel darauf und sieht die Welt auf dem Kopf stehend, dann sind die meisten Menschen überzeugt: Der Spiegel vertauscht hinten und vorne. Und zufrieden ist der Physiklehrer!
Bleibt nur noch für den Biologie-, Psychologie oder auch Philosophie-Unterrricht die Frage, warum wir Menschen trotz der Erklärungen unserer Physiklehrer normalerweise meinen, der Spiegel vertausche links und rechts. Dann gibt es die üblichen Versatzstücke zu hören. Es sei eine optische Täuschung, es liege daran, daß der Mensch einigermaßen links-rechts-symmetrisch gebaut ist, die Erdanziehung immer nach unten weise und wir uns Drehungen leichter vorstellen können als Spiegelungen. Unsere Täuschung sei erkennbar, wenn wir einen Spiegel in eine Modellandschaft oder auf eine Landkarte stellen, Schrift auf transparenter Folie vor uns halten, uns auf einen am Boden liegenden Spiegel stellen oder mehrere Spiegel so anbringen, daß alles auf dem Kopf steht.
Gewiß können Menschen sich Drehungen leichter vorstellen als Spiegelungen. Da man aber das Spiegelbild eines unsymmetrischen Gegenstandes nicht allein durch Drehung im Geiste herstellen kann, kommen wir nicht umhin, zur vollständigen Erklärung des Spiegelbildes mindestens eine Spiegelung zur Erklärung heranzuziehen. Zur Verärgerung der Physiklehrer verzichten wir nicht auf eine Drehung und spiegeln in Gedanken einfach an der Ebene des Spiegels, sondern drehen uns um 180 Grad und vertauschen dann linke und rechte Körperhälfte. Jedenfalls solange wir uns selbst aufrecht stehend im Spiegel betrachten. In anderen Lagen und bei anderen Szenerien erscheinen uns andere Transformationen möglicherweise einfacher. Mit Hilfe dieser andersartigen Spiegellagen wollen manche uns immer wieder einreden, die Links-Rechts-Vertauschung sei eine Täuschung.
Es ist eigentlich immer das gleiche: Ein gespiegeltes Bild stellen wir uns fast immer nicht als einfache Spiegelung an einer Spiegelebene vor, sonder als Hintereinanderausführung einer Drehung und einer uns einfach erscheinenden Spiegelung. Als Drehachse bietet sich zumeist die Schnittlinie zweier Ebenen an. Die eine ist die Spiegelebene, die andere Ebene ist situationsabhängig. Es kann die Symmetrieebene des Körpers, des Kopfes oder des Blickes sein, aber auch die Papierebene oder die eines zweiten Spiegels. Ist eine solche zweite Bezugsebene nicht vorhanden, trifft sie in zu spitzen Winkel auf die Spiegelebene oder liegt irgendwie ungünstig, dann versagt die normale Vorstellung und es kommt zu Verwirrungen oder schwankenden Eindrücken, wie sie Sexfanatikerinnen mit Deckenspiegel haben: Sehen sie den Arsch des Missionars, so vertauscht der Spiegel vorne und hinten. Dreht er sich zur Seite, um sich die Zigarette danach anzuzünden, ändert sich das schlagartig, denn dem Spiegelbild fehlt nicht die linke, sondern die rechte Brust.
Na also? Was will er denn? Dieses geschmacklose Beispiel macht doch deutlich: Es hängt alles vom Betrachter und der Szenerie ab, der Eindruck kann schwanken, es ist alles eine Täuschung. So sieht es wohl auch Wolfgang Stöcher [2]. Er betrachtet unter anderem Menschen, die aus Glaubensgründen aufrechts gehend immer nach Osten sehen und einen Handstand machen müssen, um sich ins Gesicht blicken zu können. Sie würden meinen, der Spiegel vertausche oben und unten. Abschließend gibt er drei Antworten auf die Links-Rechts-Frage: Zum einen die physikalische Antwort, daß in jedem Falle nur hinten und vorne vertauscht werde. Zum anderen die phänomenologische Antwort, daß der einigermaßen symmetrische Mensch sich lieber eine Drehung mit anschließender Spiegelung um die Körperebene vorstelle. Und zum dritten die Meta-Antwort, daß oben und unten keine zu links und rechts gleichwertigen Richtungen sind und die Frage damit unsinnig sei. Die erste Antwort geht an der eigentlichen Frage vorbei und antwortet nur, was jeder schon weiß. Die letzte enthält einen Teil Wahrheit, drückt sich aber vor einer wirklichen Analyse. Und die mittlere ist zu kurzatmig, sie kann mögliche Eindrücke anders gebauter Lebewesen nicht gut durchdacht haben.
Gehen wir gedanklich in die Zukunft: Erde, Sonne und alle Planeten sind zu einer Staubwolke zerfallen, durch die hindurch kein einziger Stern zu sehen ist. In dieser Welt überlebt haben einzig kugelförmige Maschinen, die in alle Richtungen gleich gut sehen können, soweit der Staub es ihnen erlaubt. Sie sind gewohnt, in alle Richtungen gleichermaßen zu blicken. Ihre Fotoalben kennen kein links, rechts, oben und unten. Die Bilder darin sind rund und in der Mitte drehbar befestigt. Sie erkennen sich und ihre Familie in allen Lagen im schwerelosen Raum gleich gut. Und gerade deshalb treibt sie immer wieder eine Frage um: Warum vertauscht der Spiegel normalerweise die eine aber nicht die andere Richtung?
Immer wieder stellen sich zwei dieser Kugelwesen (K und K′) irgendwie nebeneinander und betrachten sich im Spiegel. Sie haben beide die gleiche Blickrichtung (u=u′). Auch die zum Partner weisende Richtung (v bzw. v′), ist für beide wohldefiniert. Die Kugelwesen nennen sie ihre Partnerrichtung, die für beide Kugeln in entgegengesetzte Richtungen weisen (v′=−v) und senkrecht auf der Blickrichtung steht. Die dritte Richtung steht einfach senkrecht auf den anderen beiden und weist in die Richtung, da sich die Partnerrichtung durch eine 90‑Grad-Drehung (positiver Drehsinn, links herum, gegen den Uhrzeigersinn) aus der Blickrichtung ergibt (w=u×v bzw. w′=u′×v′). Diese beiden Richtungen sind ebenfalls entgegengesetzt (w′=−w) und werden von den Kugelwesen Drehrichtung genannt. [3]
Weil die Kugeln auf ihrer Oberfläche sehr gleichmäßig aussehen, bemalen sie sich vor dem Spiegel stehend. Ausgehend von der Mitte, wo ihr in den Spiegel schauendes Auge sitzt, malen sie einen grünen Strich in die Partnerrichtung, also auf den anderen zu, und einen roten Strich in die Drehrichtung. Anders als die ausgestorbenen Menschen, wo immer einer links neben dem anderen stand und umgekehrt, sehen beide Kugel das gleiche Bild: Die grünen Striche laufen aufeinander zu, die roten voneinander weg. Nun wenden sie sich einander zu, nicht durch einen Salto mit Schraube, den sie spielend beherrschen, sondern mit der sparsamsten aller Bewegungen, einer einfachen Drehung um 90 Grad. Diese Drehung muß um die Drehachse erfolgen, was die Namensgebung durch die Kugelwesen erklärt. Und als sie sich so direkt ohne Spiegel sehen, sagen beide übereinstimmend: Dein roter Strich weist nach wie vor in die gleiche Richtung, dein grüner aber in die entgegengesetzte.
Immer wieder, wenn sie so vor dem Spiegel stehen fragen sich die Kugelwesen: Warum vertauscht der Spiegel die Partnerrichtung, nicht jedoch die Drehrichtung? Und immer wieder antworten die Physiklehrer: Der Spiegel vertauscht weder Partner- noch Drehrichtung, sondern nur hinten und vorne in Blickrichtung, es ist alles eine Täuschung. Nur gibt es in der Kugelwelt keine Neunmalklugen, die vorschlagen, den Spiegel anders anzubringen, um sich der Täuschung bewußt zu werden, denn alle Spiegellagen sind gleichwertig. Natürlich sind die Kugelwesen sehr geübt, alle möglichen Drehungen im Raum gedanklich auszuführen, und haben nie eine gewisse Lage im schwerlosen Raum bevorzugt. Deshalb sind sie stärker als die Menschen davon beeindruckt, daß der Spiegel die grünen, nicht aber die roten Striche umkehrt, ganz gleich in welche Himmelsrichtung sie vor dem Spiegel Platz genommen haben.
Obwohl das Spiegelparadoxon die Kugelwesen immer wieder verblüfft, haben sie doch eines besser gerafft als die Menschen: Die glaubten noch, es läge an ihrem links-rechts-symmetrischen Körperbau und ihrem darauf aufbauenden Denken. Teilweise glaubten sie, mit dem Kopf in der Mitte, Füßen auch nach oben und nur einem Arm würden sie sich im Spiegel oben-unten-vertauscht sehen. Wir Kugelwesen wissen es besser: Wir haben Augen in alle Richtungen und bevorzugen keines. Soweit die Menschen überhaupt zu solchen Gedanken bereit waren, glaubten sie mehrheitlich allen Ernstes, kugelige Wesen wie wir im orientierungslosen Raum würden links, rechts, oben und unten gleichberechtigt sehen müssen und deshalb immer im Einklang mit der Physiklehrersicht meinen, der Spiegel vertausche tatsächlich nur hinten und vorne.
Wir Kugelwesen wissen wie die Menschen, daß die Vorne-Hinten-Abspeisung schwachsinnig ist. Bei weitgehend parallel zur Spiegelfläche angeordneten Objekten geht die Blickrichtung senkrecht zum Spiegel auch uns am Arsch vorbei, wie die Menschen sagten, die nur einen hatten. Auch wir denken uns dann keine einfache Vorne-Hinten-Spiegelung sondern eine Drehung gefolgt von einer Seitenvertauschung. Und deshalb würden Menschen mit Kopf in der Mitte, Füßen auch über dem Kopf und nur einem Arm trotz ihrer Oben-Unten-Symmetrie trotz fehlender Links-Rechts-Symmetrie im Spiegel die Partnerrichtung, nämlich links und rechts vertauscht sehen, nicht Fuß mit Fuß. Lebten sie im schwerelosen Raum und würden sich vorzugsweise an den Füßen begegnen, dann wäre es auch nicht oben und unten, sondern immer noch links und rechts, wenn es auch zugleich die Fußrichtung ist. Lax könnte man sagen, es würde stets die Begegnungsrichtung vertauscht, auch wenn man allein ist und es nur im Geiste geschieht.
Insofern sollten wir Kugelwesen, die wir trotz unserer Symmetrie uns immer wieder über den Spiegel wundern, der Meta-Antwort des Menschen Wolfgang Stöcher folgen: Der Spiegel vertauscht zwar wie an der gespiegelten Landkarte zu sehen eigentlich Vorder- und Hintergrund, zumeist ist es aber von denkerischem Vorteil, eine Vertauschung an einer Ebene vorzunehmen, die senkrecht auf der Spiegelfläche steht und eine Vorzugsrichtung beinhaltet, zumeist die eigene Körperachse. Wenn sie von den Füßen zum Kopf, also von unten nach oben weist, dann ist links, was um 0 bis 180 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht ist, mit dem Uhrzeiger rechts. Und damit bleibt oben oben und unten unten, doch links und rechts werden vertauscht. Auch bei den Kugelwesen. Nur können sie nicht sagen, welche der beiden Seiten die linke ist. Aber vertauscht werden sie schon. Und sie wissen nicht wo oben und wo unten ist, aber erhalten bleiben beide dennoch.
Kurz zusammengefaßt: Alle drei Antworten von Wolfgang Stöcher [2] treffen zu, doch die dritte, die Meta-Antwort, links-rechts sei mit oben-unten nicht vergleichbar, wäre meines Erachtens ohne den Zusatz, die Frage „Warum vertauscht der Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten“ sei daher „so nicht sinnvoll“ [1] die tiefsinnigste gewesen.
[1] Frau Klugscheisser: Infinity. Kluges & Scheiß, 23.03.2006.
[2] Wolfgang Stöcher: Zusammenfassung ‒ Eine Frage, 3 Antworten. Der alte Link ist tot, und der Inhalt scheint nunmehr weitgehend zusammenhanglos auf mehrere Seiten verteilt zu sein. Also in der URL _6 durch _2 bis _5 austauschen, um alles zu lesen.
[3] Um Irrtümern vorzubeugen: Es sind nicht zwei Menschen, die vor einem Spiegel stehen und beide in die gleiche Richtung auf den Spiegel schauen, wo jeder weiß, wer von beiden links und wer rechts steht, weil ihre Körper vom Fuß zum Kopf in die gleiche Richtung weisen. Stünde ein Mensch mit K in der linken und K′ in der rechten Hand vor dem Spiegel, könnte er natürlich sagen, welche Kugel die linke und welche die rechte sei. Auch die Kugelwesen könnten das, wenn sie beständig unter Menschen lebten, die alle mit dem Kopf in die gleiche Richtung weisen. Aber allein mit einem Spiegel im orientierungslosen Raum kennen sie keine Vorzugsrichtung. Die Drehrichtung w der ‚linken‘ Kugel K weist nach ‚unten‘, w′ der ‚rechten‘ K′ nach ‚oben‘. Doch gleichwohl die Kugelwesen nicht links, rechts, oben und unten dauerhaft festgelegt haben, können sie dennoch eine gemeinsame Links-Rechts-Richtung (parallel zu u und u′) und auch eine Oben-Unten-Richtung (parallel zu v und v′) erkennen. Und wer nach diesen Ausführungen immer noch meint, eine linke und eine rechte Kugel unterscheiden zu können, der spricht nur von seiner eigenen Vorstellung, seiner willkürlichen Zuordnung, sieht sich selbst hinter den Kugeln stehend und drückt ihnen seine Betrachtungsweise auf.
Sicherlich wissen wir alle, daß der plane Spiegel eine Ebene definiert, an der alles vertauscht wird. Deshalb heißt diese Ebene auch Spiegelebene. Und wenn wir den Halbraum auf der spiegelnden Seite Vordergrund oder einfach vorne nennen, den auf der matten Rückseite aber Hintergrund oder einfach hinten, so bringt der Spiegel tatsächlich vorne nach hinten, auch wenn er an der Decke hängt. Schlägt man dann noch den Atlas mit einer Weltkarte auf, stellt einen Spiegel darauf und sieht die Welt auf dem Kopf stehend, dann sind die meisten Menschen überzeugt: Der Spiegel vertauscht hinten und vorne. Und zufrieden ist der Physiklehrer!
Bleibt nur noch für den Biologie-, Psychologie oder auch Philosophie-Unterrricht die Frage, warum wir Menschen trotz der Erklärungen unserer Physiklehrer normalerweise meinen, der Spiegel vertausche links und rechts. Dann gibt es die üblichen Versatzstücke zu hören. Es sei eine optische Täuschung, es liege daran, daß der Mensch einigermaßen links-rechts-symmetrisch gebaut ist, die Erdanziehung immer nach unten weise und wir uns Drehungen leichter vorstellen können als Spiegelungen. Unsere Täuschung sei erkennbar, wenn wir einen Spiegel in eine Modellandschaft oder auf eine Landkarte stellen, Schrift auf transparenter Folie vor uns halten, uns auf einen am Boden liegenden Spiegel stellen oder mehrere Spiegel so anbringen, daß alles auf dem Kopf steht.
Gewiß können Menschen sich Drehungen leichter vorstellen als Spiegelungen. Da man aber das Spiegelbild eines unsymmetrischen Gegenstandes nicht allein durch Drehung im Geiste herstellen kann, kommen wir nicht umhin, zur vollständigen Erklärung des Spiegelbildes mindestens eine Spiegelung zur Erklärung heranzuziehen. Zur Verärgerung der Physiklehrer verzichten wir nicht auf eine Drehung und spiegeln in Gedanken einfach an der Ebene des Spiegels, sondern drehen uns um 180 Grad und vertauschen dann linke und rechte Körperhälfte. Jedenfalls solange wir uns selbst aufrecht stehend im Spiegel betrachten. In anderen Lagen und bei anderen Szenerien erscheinen uns andere Transformationen möglicherweise einfacher. Mit Hilfe dieser andersartigen Spiegellagen wollen manche uns immer wieder einreden, die Links-Rechts-Vertauschung sei eine Täuschung.
Es ist eigentlich immer das gleiche: Ein gespiegeltes Bild stellen wir uns fast immer nicht als einfache Spiegelung an einer Spiegelebene vor, sonder als Hintereinanderausführung einer Drehung und einer uns einfach erscheinenden Spiegelung. Als Drehachse bietet sich zumeist die Schnittlinie zweier Ebenen an. Die eine ist die Spiegelebene, die andere Ebene ist situationsabhängig. Es kann die Symmetrieebene des Körpers, des Kopfes oder des Blickes sein, aber auch die Papierebene oder die eines zweiten Spiegels. Ist eine solche zweite Bezugsebene nicht vorhanden, trifft sie in zu spitzen Winkel auf die Spiegelebene oder liegt irgendwie ungünstig, dann versagt die normale Vorstellung und es kommt zu Verwirrungen oder schwankenden Eindrücken, wie sie Sexfanatikerinnen mit Deckenspiegel haben: Sehen sie den Arsch des Missionars, so vertauscht der Spiegel vorne und hinten. Dreht er sich zur Seite, um sich die Zigarette danach anzuzünden, ändert sich das schlagartig, denn dem Spiegelbild fehlt nicht die linke, sondern die rechte Brust.
Na also? Was will er denn? Dieses geschmacklose Beispiel macht doch deutlich: Es hängt alles vom Betrachter und der Szenerie ab, der Eindruck kann schwanken, es ist alles eine Täuschung. So sieht es wohl auch Wolfgang Stöcher [2]. Er betrachtet unter anderem Menschen, die aus Glaubensgründen aufrechts gehend immer nach Osten sehen und einen Handstand machen müssen, um sich ins Gesicht blicken zu können. Sie würden meinen, der Spiegel vertausche oben und unten. Abschließend gibt er drei Antworten auf die Links-Rechts-Frage: Zum einen die physikalische Antwort, daß in jedem Falle nur hinten und vorne vertauscht werde. Zum anderen die phänomenologische Antwort, daß der einigermaßen symmetrische Mensch sich lieber eine Drehung mit anschließender Spiegelung um die Körperebene vorstelle. Und zum dritten die Meta-Antwort, daß oben und unten keine zu links und rechts gleichwertigen Richtungen sind und die Frage damit unsinnig sei. Die erste Antwort geht an der eigentlichen Frage vorbei und antwortet nur, was jeder schon weiß. Die letzte enthält einen Teil Wahrheit, drückt sich aber vor einer wirklichen Analyse. Und die mittlere ist zu kurzatmig, sie kann mögliche Eindrücke anders gebauter Lebewesen nicht gut durchdacht haben.
Gehen wir gedanklich in die Zukunft: Erde, Sonne und alle Planeten sind zu einer Staubwolke zerfallen, durch die hindurch kein einziger Stern zu sehen ist. In dieser Welt überlebt haben einzig kugelförmige Maschinen, die in alle Richtungen gleich gut sehen können, soweit der Staub es ihnen erlaubt. Sie sind gewohnt, in alle Richtungen gleichermaßen zu blicken. Ihre Fotoalben kennen kein links, rechts, oben und unten. Die Bilder darin sind rund und in der Mitte drehbar befestigt. Sie erkennen sich und ihre Familie in allen Lagen im schwerelosen Raum gleich gut. Und gerade deshalb treibt sie immer wieder eine Frage um: Warum vertauscht der Spiegel normalerweise die eine aber nicht die andere Richtung?
Immer wieder stellen sich zwei dieser Kugelwesen (K und K′) irgendwie nebeneinander und betrachten sich im Spiegel. Sie haben beide die gleiche Blickrichtung (u=u′). Auch die zum Partner weisende Richtung (v bzw. v′), ist für beide wohldefiniert. Die Kugelwesen nennen sie ihre Partnerrichtung, die für beide Kugeln in entgegengesetzte Richtungen weisen (v′=−v) und senkrecht auf der Blickrichtung steht. Die dritte Richtung steht einfach senkrecht auf den anderen beiden und weist in die Richtung, da sich die Partnerrichtung durch eine 90‑Grad-Drehung (positiver Drehsinn, links herum, gegen den Uhrzeigersinn) aus der Blickrichtung ergibt (w=u×v bzw. w′=u′×v′). Diese beiden Richtungen sind ebenfalls entgegengesetzt (w′=−w) und werden von den Kugelwesen Drehrichtung genannt. [3]
Weil die Kugeln auf ihrer Oberfläche sehr gleichmäßig aussehen, bemalen sie sich vor dem Spiegel stehend. Ausgehend von der Mitte, wo ihr in den Spiegel schauendes Auge sitzt, malen sie einen grünen Strich in die Partnerrichtung, also auf den anderen zu, und einen roten Strich in die Drehrichtung. Anders als die ausgestorbenen Menschen, wo immer einer links neben dem anderen stand und umgekehrt, sehen beide Kugel das gleiche Bild: Die grünen Striche laufen aufeinander zu, die roten voneinander weg. Nun wenden sie sich einander zu, nicht durch einen Salto mit Schraube, den sie spielend beherrschen, sondern mit der sparsamsten aller Bewegungen, einer einfachen Drehung um 90 Grad. Diese Drehung muß um die Drehachse erfolgen, was die Namensgebung durch die Kugelwesen erklärt. Und als sie sich so direkt ohne Spiegel sehen, sagen beide übereinstimmend: Dein roter Strich weist nach wie vor in die gleiche Richtung, dein grüner aber in die entgegengesetzte.
Immer wieder, wenn sie so vor dem Spiegel stehen fragen sich die Kugelwesen: Warum vertauscht der Spiegel die Partnerrichtung, nicht jedoch die Drehrichtung? Und immer wieder antworten die Physiklehrer: Der Spiegel vertauscht weder Partner- noch Drehrichtung, sondern nur hinten und vorne in Blickrichtung, es ist alles eine Täuschung. Nur gibt es in der Kugelwelt keine Neunmalklugen, die vorschlagen, den Spiegel anders anzubringen, um sich der Täuschung bewußt zu werden, denn alle Spiegellagen sind gleichwertig. Natürlich sind die Kugelwesen sehr geübt, alle möglichen Drehungen im Raum gedanklich auszuführen, und haben nie eine gewisse Lage im schwerlosen Raum bevorzugt. Deshalb sind sie stärker als die Menschen davon beeindruckt, daß der Spiegel die grünen, nicht aber die roten Striche umkehrt, ganz gleich in welche Himmelsrichtung sie vor dem Spiegel Platz genommen haben.
Obwohl das Spiegelparadoxon die Kugelwesen immer wieder verblüfft, haben sie doch eines besser gerafft als die Menschen: Die glaubten noch, es läge an ihrem links-rechts-symmetrischen Körperbau und ihrem darauf aufbauenden Denken. Teilweise glaubten sie, mit dem Kopf in der Mitte, Füßen auch nach oben und nur einem Arm würden sie sich im Spiegel oben-unten-vertauscht sehen. Wir Kugelwesen wissen es besser: Wir haben Augen in alle Richtungen und bevorzugen keines. Soweit die Menschen überhaupt zu solchen Gedanken bereit waren, glaubten sie mehrheitlich allen Ernstes, kugelige Wesen wie wir im orientierungslosen Raum würden links, rechts, oben und unten gleichberechtigt sehen müssen und deshalb immer im Einklang mit der Physiklehrersicht meinen, der Spiegel vertausche tatsächlich nur hinten und vorne.
Wir Kugelwesen wissen wie die Menschen, daß die Vorne-Hinten-Abspeisung schwachsinnig ist. Bei weitgehend parallel zur Spiegelfläche angeordneten Objekten geht die Blickrichtung senkrecht zum Spiegel auch uns am Arsch vorbei, wie die Menschen sagten, die nur einen hatten. Auch wir denken uns dann keine einfache Vorne-Hinten-Spiegelung sondern eine Drehung gefolgt von einer Seitenvertauschung. Und deshalb würden Menschen mit Kopf in der Mitte, Füßen auch über dem Kopf und nur einem Arm trotz ihrer Oben-Unten-Symmetrie trotz fehlender Links-Rechts-Symmetrie im Spiegel die Partnerrichtung, nämlich links und rechts vertauscht sehen, nicht Fuß mit Fuß. Lebten sie im schwerelosen Raum und würden sich vorzugsweise an den Füßen begegnen, dann wäre es auch nicht oben und unten, sondern immer noch links und rechts, wenn es auch zugleich die Fußrichtung ist. Lax könnte man sagen, es würde stets die Begegnungsrichtung vertauscht, auch wenn man allein ist und es nur im Geiste geschieht.
Insofern sollten wir Kugelwesen, die wir trotz unserer Symmetrie uns immer wieder über den Spiegel wundern, der Meta-Antwort des Menschen Wolfgang Stöcher folgen: Der Spiegel vertauscht zwar wie an der gespiegelten Landkarte zu sehen eigentlich Vorder- und Hintergrund, zumeist ist es aber von denkerischem Vorteil, eine Vertauschung an einer Ebene vorzunehmen, die senkrecht auf der Spiegelfläche steht und eine Vorzugsrichtung beinhaltet, zumeist die eigene Körperachse. Wenn sie von den Füßen zum Kopf, also von unten nach oben weist, dann ist links, was um 0 bis 180 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht ist, mit dem Uhrzeiger rechts. Und damit bleibt oben oben und unten unten, doch links und rechts werden vertauscht. Auch bei den Kugelwesen. Nur können sie nicht sagen, welche der beiden Seiten die linke ist. Aber vertauscht werden sie schon. Und sie wissen nicht wo oben und wo unten ist, aber erhalten bleiben beide dennoch.
Kurz zusammengefaßt: Alle drei Antworten von Wolfgang Stöcher [2] treffen zu, doch die dritte, die Meta-Antwort, links-rechts sei mit oben-unten nicht vergleichbar, wäre meines Erachtens ohne den Zusatz, die Frage „Warum vertauscht der Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten“ sei daher „so nicht sinnvoll“ [1] die tiefsinnigste gewesen.
[1] Frau Klugscheisser: Infinity. Kluges & Scheiß, 23.03.2006.
[2] Wolfgang Stöcher: Zusammenfassung ‒ Eine Frage, 3 Antworten. Der alte Link ist tot, und der Inhalt scheint nunmehr weitgehend zusammenhanglos auf mehrere Seiten verteilt zu sein. Also in der URL _6 durch _2 bis _5 austauschen, um alles zu lesen.
[3] Um Irrtümern vorzubeugen: Es sind nicht zwei Menschen, die vor einem Spiegel stehen und beide in die gleiche Richtung auf den Spiegel schauen, wo jeder weiß, wer von beiden links und wer rechts steht, weil ihre Körper vom Fuß zum Kopf in die gleiche Richtung weisen. Stünde ein Mensch mit K in der linken und K′ in der rechten Hand vor dem Spiegel, könnte er natürlich sagen, welche Kugel die linke und welche die rechte sei. Auch die Kugelwesen könnten das, wenn sie beständig unter Menschen lebten, die alle mit dem Kopf in die gleiche Richtung weisen. Aber allein mit einem Spiegel im orientierungslosen Raum kennen sie keine Vorzugsrichtung. Die Drehrichtung w der ‚linken‘ Kugel K weist nach ‚unten‘, w′ der ‚rechten‘ K′ nach ‚oben‘. Doch gleichwohl die Kugelwesen nicht links, rechts, oben und unten dauerhaft festgelegt haben, können sie dennoch eine gemeinsame Links-Rechts-Richtung (parallel zu u und u′) und auch eine Oben-Unten-Richtung (parallel zu v und v′) erkennen. Und wer nach diesen Ausführungen immer noch meint, eine linke und eine rechte Kugel unterscheiden zu können, der spricht nur von seiner eigenen Vorstellung, seiner willkürlichen Zuordnung, sieht sich selbst hinter den Kugeln stehend und drückt ihnen seine Betrachtungsweise auf.
... comment
frau klugscheisser,
19.04.2006 14:29
Herr würg, ich habe jetzt zwei Tage über Ihren Text nachgedacht. Irgendetwas in meinem Kopf hakt aber. Falls meine Worte jetzt ein wenig dumm klingen, dann liegt das an meinem beschränkten Auffassungsvermögen.
Sie sagen, die Physiker wären mit ihrer Antwort "er vertauscht hinten und vorne" zufrieden und sähen nicht den philosophischen Aspekt. Als weitere Erklärung folgt die der optischen Täuschung. Dabei ist im Falle des Spiegels das "vorne und hinten" einfach nur eine Frage der Definition oder aber der Betrachtungsweise. Sobald ich vorne und hinten definiert habe und mir meines Standpunktes klar bin, der als Bezugspunkt für diese Definition herhalten muss, wird die physikalische Erklärung zu einer philosophischen, nicht?
Weiter bin ich bisher mit meinen Erkenntnissen nicht gekommen.
Sie sagen, die Physiker wären mit ihrer Antwort "er vertauscht hinten und vorne" zufrieden und sähen nicht den philosophischen Aspekt. Als weitere Erklärung folgt die der optischen Täuschung. Dabei ist im Falle des Spiegels das "vorne und hinten" einfach nur eine Frage der Definition oder aber der Betrachtungsweise. Sobald ich vorne und hinten definiert habe und mir meines Standpunktes klar bin, der als Bezugspunkt für diese Definition herhalten muss, wird die physikalische Erklärung zu einer philosophischen, nicht?
Weiter bin ich bisher mit meinen Erkenntnissen nicht gekommen.
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wuerg,
19.04.2006 21:10
Es macht nichts, wenn Sie nicht alles verstehen konnten. Manches ist auch noch erklärungsbedürftig. Mir ging es zunächst um zweierlei:
1. Wer die Frage stellt, warum der Spiegel links und rechts vertausche, nicht aber oben und unten, weiß selbsverständlich, daß es in Wirklichkeit vorne und hinten ist. Auch ist ihm klar, daß ein völlig planer Spiegel links und rechts nicht gegenüber oben und unten bevorzugen kann, die Ungleichheit also durch Betrachtung, Denken, Gewöhnung oder Täuschung auftreten muß. Doch durch welche?
2. Wer vorschnell alles damit abtut, daß der Mensch höher als breit, einigermaßen links-rechts-symmetrisch ist, die Schwerkraft immer nach unten weist und wir Bilder fast immer mit der Zimmerdecke nach oben ins Album kleben, der greift zu kurz. Es ist keine Täuschung mit der man sich abzufinden hat, auch keine Gewöhnung, von der man sich befreien kann.
Die Grundlage des Problemes ist völlig menschenfrei. Zum Verständnis verzichte ich auf Spiegel und nehme zwei Bilder von einem Negativ. Das eine sei richtig abgezogen, das andere spiegelverkehrt. Liegen beide nebeneinander, so gibt es ein Problem: Wie transformiert man im Geiste die eine Abbildung in die andere?
Zeigen die Bilder eine räumliche Szene, könnte man sich den Raum zum ersten Bild vorstellen, vorne und hinten vertauschen und dann im zweiten Bild eine zweidimensionale Ansicht des gespiegelten Raumes erkennen. Doch das ist zu kompliziert, nicht nur für den Menschen, sondern überhaupt. Die Vorne-Hinten-Vorstellung versagt nicht nur für Menschen, sondern fast schon aus geometrischem Grunde.
Der Mensch löst das Problem normalerweise, indem er die Bilder so nebeneinander legt, daß sich eine Links-Rechts-Vertauschung ergibt. So würde es jeder normale Mensch mit Schrift und Spiegelschrift machen. In seltenen Fällen legt er sie auch übereinander, womit sich oben und unten vertauschen. Die Spiegelschrift läuft dann normal von links nach rechts, nur stehen die Buchstaben auf dem Kopf. Wer das nicht fließend lesen kann, sollte sich nicht Schriftsetzer nennen.
Für den Menschen entsteht ein Problem, wenn die beiden Bilder nicht verschoben oder verdreht werden können und er sich die Spiegelung an einer schief zur Blickrichtung liegenden Achse vorstellen muß. Doch darum geht es nicht. Außerirdischen oder Computern ist das möglichweise egal. Der Geometrie so und so. Das Grundlagenproblem ist abstrakt, nicht menschlich: Welche der unendlich vielen gleichberechtigen gedanklichen Spiegelebenen wähle ich? Oder menschlich gesprochen: Wie klebe ich sie gemeinsam ins Fotoalbum?
Eine allgemeine Antwort kann es nicht geben, denn die grundlegende Gleichberechtigung verschiedener Richtungen kann nicht wegdiskutiert werden. In der überwältigenden Mehrheit aller Fälle aber kommt von außen eine Ungleichheit ins Spiel, die zu einer Bevorzugung einer Richtung Anlaß gibt. Natürlich ist es beim Menschen die Betrachtungsgewohnheit. Aber das ist keine Antwort, denn es schließt sich die Frage an: Woher kommt diese Betrachtungsgewohnheit?
Gewiß kommt die Gewohnheit des Menschen praktisch aus seiner Lebenswelt, seinem Körperbau und seiner Sehfähigkeit. Deshalb habe ich die Kugelwesen betrachtet, die all' diese Anhaltspunkte und Beschränkungen nicht besitzen. Doch sie haben eines mit uns gemeinsam: Wenn sie sich drehen oder bewegen, und sei es nur im Geiste, dann sind nicht mehr alle Richtungen gleichberechtigt. Und weil sich die Achse einer Drehung zumindest kurzzeitig nicht ändert, kommt sie als Spiegelungsrichtung kaum in Betracht, eher die sowohl auf der Blickrichtung u als auch den Drehachsen ±w senkrechten Partnerrichtungen ±v, die orientierungslos auch dann durch v=w×v definiert sind, wenn gar kein Partner vorhanden ist. Und die würde von deutsch sprechenden Kugelwesen links-rechts genannt, sofern nicht starke Gründe dagegen stehen. Um es noch einmal zu sagen: Ohne zu wissen, wer links und wer rechts steht.
Damit habe ich den Kugelwesen noch keine vor anderen ausgezeichnete Links-Rechts-Symmetrie aufgeschwatzt, weil sie sich im Gegensatz zu uns Menschen in alle Richtungen gleich gut drehen können. Sie werden aber ein körperbezogenes Koordinatensystem bevorzugen, auch wenn sie es beliebig variieren können. Und wenn sie neben der Blickrichtung (vorne-hinten) noch den geringsten Anhaltspunkt für eine andere Vorzugsrichtung wie etwa eine Drehachse (oben-unten) haben, dann werden sie sich eine Spiegelung senkrecht zu diesen beiden Achsen (links-rechts) denken.
Kurz: Lage und Bewegung im Raum definieren normalerweise eine Richtung, deren Vertauschung am einfachsten das Spiegelbild erklärt. Sofern man diese Richtung links-rechts nennt, vertauscht der Spiegel also wirklich links und rechts, auch wenn man nicht weiß oder wie die Kugelwesen noch nicht einmal wissen kann, wo links und wo rechts ist. Wer sich zu dieser Bezeichnung nicht durchringen mag, nenne die Achse einfach die Dumm-Dreist-Achse. Für ihn lautet die Frage dann: Warum vertauscht der Spiegel dumm und dreist?
1. Wer die Frage stellt, warum der Spiegel links und rechts vertausche, nicht aber oben und unten, weiß selbsverständlich, daß es in Wirklichkeit vorne und hinten ist. Auch ist ihm klar, daß ein völlig planer Spiegel links und rechts nicht gegenüber oben und unten bevorzugen kann, die Ungleichheit also durch Betrachtung, Denken, Gewöhnung oder Täuschung auftreten muß. Doch durch welche?
2. Wer vorschnell alles damit abtut, daß der Mensch höher als breit, einigermaßen links-rechts-symmetrisch ist, die Schwerkraft immer nach unten weist und wir Bilder fast immer mit der Zimmerdecke nach oben ins Album kleben, der greift zu kurz. Es ist keine Täuschung mit der man sich abzufinden hat, auch keine Gewöhnung, von der man sich befreien kann.
Die Grundlage des Problemes ist völlig menschenfrei. Zum Verständnis verzichte ich auf Spiegel und nehme zwei Bilder von einem Negativ. Das eine sei richtig abgezogen, das andere spiegelverkehrt. Liegen beide nebeneinander, so gibt es ein Problem: Wie transformiert man im Geiste die eine Abbildung in die andere?
Zeigen die Bilder eine räumliche Szene, könnte man sich den Raum zum ersten Bild vorstellen, vorne und hinten vertauschen und dann im zweiten Bild eine zweidimensionale Ansicht des gespiegelten Raumes erkennen. Doch das ist zu kompliziert, nicht nur für den Menschen, sondern überhaupt. Die Vorne-Hinten-Vorstellung versagt nicht nur für Menschen, sondern fast schon aus geometrischem Grunde.
Der Mensch löst das Problem normalerweise, indem er die Bilder so nebeneinander legt, daß sich eine Links-Rechts-Vertauschung ergibt. So würde es jeder normale Mensch mit Schrift und Spiegelschrift machen. In seltenen Fällen legt er sie auch übereinander, womit sich oben und unten vertauschen. Die Spiegelschrift läuft dann normal von links nach rechts, nur stehen die Buchstaben auf dem Kopf. Wer das nicht fließend lesen kann, sollte sich nicht Schriftsetzer nennen.
Für den Menschen entsteht ein Problem, wenn die beiden Bilder nicht verschoben oder verdreht werden können und er sich die Spiegelung an einer schief zur Blickrichtung liegenden Achse vorstellen muß. Doch darum geht es nicht. Außerirdischen oder Computern ist das möglichweise egal. Der Geometrie so und so. Das Grundlagenproblem ist abstrakt, nicht menschlich: Welche der unendlich vielen gleichberechtigen gedanklichen Spiegelebenen wähle ich? Oder menschlich gesprochen: Wie klebe ich sie gemeinsam ins Fotoalbum?
Eine allgemeine Antwort kann es nicht geben, denn die grundlegende Gleichberechtigung verschiedener Richtungen kann nicht wegdiskutiert werden. In der überwältigenden Mehrheit aller Fälle aber kommt von außen eine Ungleichheit ins Spiel, die zu einer Bevorzugung einer Richtung Anlaß gibt. Natürlich ist es beim Menschen die Betrachtungsgewohnheit. Aber das ist keine Antwort, denn es schließt sich die Frage an: Woher kommt diese Betrachtungsgewohnheit?
Gewiß kommt die Gewohnheit des Menschen praktisch aus seiner Lebenswelt, seinem Körperbau und seiner Sehfähigkeit. Deshalb habe ich die Kugelwesen betrachtet, die all' diese Anhaltspunkte und Beschränkungen nicht besitzen. Doch sie haben eines mit uns gemeinsam: Wenn sie sich drehen oder bewegen, und sei es nur im Geiste, dann sind nicht mehr alle Richtungen gleichberechtigt. Und weil sich die Achse einer Drehung zumindest kurzzeitig nicht ändert, kommt sie als Spiegelungsrichtung kaum in Betracht, eher die sowohl auf der Blickrichtung u als auch den Drehachsen ±w senkrechten Partnerrichtungen ±v, die orientierungslos auch dann durch v=w×v definiert sind, wenn gar kein Partner vorhanden ist. Und die würde von deutsch sprechenden Kugelwesen links-rechts genannt, sofern nicht starke Gründe dagegen stehen. Um es noch einmal zu sagen: Ohne zu wissen, wer links und wer rechts steht.
Damit habe ich den Kugelwesen noch keine vor anderen ausgezeichnete Links-Rechts-Symmetrie aufgeschwatzt, weil sie sich im Gegensatz zu uns Menschen in alle Richtungen gleich gut drehen können. Sie werden aber ein körperbezogenes Koordinatensystem bevorzugen, auch wenn sie es beliebig variieren können. Und wenn sie neben der Blickrichtung (vorne-hinten) noch den geringsten Anhaltspunkt für eine andere Vorzugsrichtung wie etwa eine Drehachse (oben-unten) haben, dann werden sie sich eine Spiegelung senkrecht zu diesen beiden Achsen (links-rechts) denken.
Kurz: Lage und Bewegung im Raum definieren normalerweise eine Richtung, deren Vertauschung am einfachsten das Spiegelbild erklärt. Sofern man diese Richtung links-rechts nennt, vertauscht der Spiegel also wirklich links und rechts, auch wenn man nicht weiß oder wie die Kugelwesen noch nicht einmal wissen kann, wo links und wo rechts ist. Wer sich zu dieser Bezeichnung nicht durchringen mag, nenne die Achse einfach die Dumm-Dreist-Achse. Für ihn lautet die Frage dann: Warum vertauscht der Spiegel dumm und dreist?
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