Rechnen statt Mathematik
Ich habe eine Reihe von Aufgaben aus Youtube-​Film­chen beschrie­ben, an denen „99% der Besten schei­terten“. Mit zuneh­mender Anzahl muß ich sie in verschie­dene Schub­laden stecken. Nicht nur nach ihrer Abartig­keit oder Trick­serei, auch nach ihrer Origi­nalität, Schwie­rigkeit und vermu­teter Moti­vation.

Immer wieder gibt es solche, in denen teilweise sehr lang­wierig, auch unmoti­viert gerechnet wird, statt allge­meine Zusammen­hänge darzu­stellen und auszu­nutzen, die wenig­stens einen sitt­lichen Nährwert haben. Ein einfaches Beispiel: [1]

„Was ist größer? ‒ ∛3 vs. ∜4“ [2] Ersteres. Zu Fuß bildet man von beiden die zwölfte Potenz und kommt auf 3⁴ und 4³, ausge­rechnet 81>64. Das geschieht im Film­chen in sieben Schritten ein­schließ­lich des „5. Potenz­geset­zes“. [3]

Was würde man ohne Taschenrechner machen, wenn e statt 3 und π anstelle von 4 dastünde? [4] Das gleiche: Einfach ausnutzen, daß e hoch π größer als π hoch e ist, weil oberhalb von e der größere Expo­nent gewinnt, genauer gesagt: Für em<n ist nᵐ<mⁿ. [5] Das ist im Gegensatz zu 3 und 4 von allge­meinem Nährwert, was man sich bei Inter­esse merken könnte.

Etwas eleganter ist, auf die Bildung der zwölften Potenz zu verzichten und ⅓ hoch ⅓ mit ¼ hoch ¼ zu verglei­chen. Unter­halb von e gewinnt die klei­nere Zahl. [5] Also ∛⅓<∜¼. Kehr­wert­bil­dung führt zum Ergebnis.

[1] Ich nehme es wegen der Einfach­heit und weiß natür­lich, daß die Ziel­gruppe den unteren Schul­klassen zuzu­rechnen ist, an denen meine allge­meine­ren Betrach­tungen insofern vorbei­gehen, als sie zumin­dest zum Beweise Kennt­nisse der Ana­lysis benö­tigen.

[2] Schaffst du es ohne Taschen­rechner?! ** Mathe Basics 506 **#obacht­mathe #rätsel #quiz. Obacht Mathe, Youtube, März 2025.

[3] Ich weiß, solche Videos zielen auf Schüler, denen man alles Schritt für Schritt erklären zu müssen glaubt. Einschließ­lich einer sinn­leeren Nume­rie­rung von Potenz­gesetzen. Aber die Dar­stel­lung ist wenig­stens ordent­lich, kein Gekrakel wie anderswo.

[4] Der Taschenrechner sagt eπ≈23,14 und πe≈22,46. Das Ver­hält­nis ist mit etwa 1,03 deut­lich knapper als 81/64 für 3⁴/4³.

[5] Zum Beweise formt man nᵐ<mⁿ in m/logm<n/logn um und zeigt, daß x/logx für x>e streng monoton fällt.

[6] Wieder wie unter [4] die Funktion x/logx, die für 0<x<e streng monoton steigt.

Moonwalk und Manege statt Mathematik | Harvard

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„2x=x32“ [1] Ich dachte, die Aufgabe bestünde darin, alle reellen Lösungen zu finden. [2] Wohl geblen­det durch die bekannte Lösung 256 wird gerech­net und gerech­net, bis allein sie herauskam.

Wozu für eine Lösung? Wahr­scheinlich ist es eine Zweier­potenz x=2. Das ergibt 2=32n, was schon eher durch Hochzählen zu lösen ist. Zu allem Über­fluß kann man aber­mals n=2 setzen und kommt auf 2=i+5. [3] Daraus lugt i=3 hervor. Damit n=8 und x=256. [4]

[1] Only Geniuses Can Solve This | A Challenging Exponential Problem. Click Academics, Youtube, März 2025.

[2] Wer eine graphische Vorstel­lung von Funk­tionen hat, ist oft im Vorteil und sieht neben 256 zwei weitere bei 1,02 und −0,98.

[3] Warum n und i, nicht y und z? Weil der Unicode keine anderen hoch­gestell­ten Buch­staben kennt und <sup> den Zeilen­abstand versaut.

[4] Das erinnert an die Datenverarbeitung der frühen Jahre: Drei Binär­stellen (i=3) können jedes Bit in einem Byte addressieren. Ein Byte zu n=8 Bit reicht aus, x=256 dieser Bytes zu adres­sieren, weshalb platz­sparende Programme sich ungern aus einem solchen Block von 256 Bytes bewegten.

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„2x=5−x“ [1] Diese Aufgabe sieht ein­facher aus als die voran­gehende, ist es aber nicht. Zwar gibt es offen­sicht­lich nur eine reelle Lösung, doch die läßt sich nicht raten. Also wieder eine Rechnung mit Winkel­zügen, von mir verkürzt, aber erläu­tert: Da solche Probleme gerne auf die Lambert­sche W‑Funktion hinaus­laufen, wird zunächst die Summe durch y=5−x besei­tigt. Das ergibt mit der Lambert­schen W‑Funk­tion, der Umkeh­rung von z⋅exp(z)

32=y⋅2y   32⋅ln2=yln2⋅eyln2   W(32⋅ln2)=yln2
x = 5−y = 5−W(32⋅ln2)/ln2 ≈ 1,716

Ich halte es für erforder­lich, die Näherung anzu­geben, vor allem, weil die Lambert­sche W‑Funk­tion auf einem nor­malen Taschen­rechner fehlt. Im Filmchen wird darauf ver­zichtet. Das ist didak­tisch minder­wertig.

[1] Only Geniuses Can Solve This | A Challenging Exponential Problem. Click Academics, Youtube, März 2025. Im Gegen­satz zum Titel­bild beginnt er mit 2^x+x=5, um sodann beidseitig x abzuziehen, um wieder zu 2^x=5−x zu kommen. Das kann den ersten schon irri­tieren. Mich stört es nur.

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„University Admissions ‒ 4x2=x128“ [1] Schon wieder so eine Aufgabe, die wohl eine Zweier­potenz als Lösung hat. Also gleich raten, durch­probie­ren oder x=2 mit 2²⁺¹=128n. Der Voll­ständig­keit halber wieder n=2 zu 2⋅2+1=i+7. Also i=2, n=4 und x=16.

Natürlich ist damit auch −16 Lösung. Es gibt aber noch zwei weitere bei ±1,01113. Mit x=1 begin­nend reichen drei Iterationen x:=2^(x²/64). Das kann jeder Taschen­rechner aus diesem Jahr­tausend.

Wer von üblen Tricks und viel Rech­nerei immer noch nicht die Nase voll hat, der verfolge auf­merksam die Wirrun­gen im Video, in dem nur ±16 erreicht wird. Für die beiden anderen nützt einem „let us verify“ in epischer Breite nichts. Man muß sie ja nicht nähern oder wieder einmal mit der Lambert­schen W‑Funk­tion dar­stellen, was einem so und so nichts bringt. [2] Aber erwähnen sollte man die weiteren Lösungen schon, wenn man Mathe­matik betreibt.

[1] Stanford University Admission Exam Tricks | Find x=?****. Super Academy, Youtube, März 2025.

[2] Ich habe mir die Mühe gemacht und x=±exp(−W(−ln2/32)/2) ausge­rechnet. Auf vier Stellen genau ist ln2/32=0,02166. Daraus W₀(−0,02166)=−0,02215 mit x=±exp(0,02215/2)=±1,0111 und W₋₁(−0,02166)=−5,545 mit x=±exp(5,545/2)=±16,00.

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„Kannst du […] lösen? ‒ x4+x3+x2+x+1=0“ Natürlich! Links steht eine geome­trische Reihe, die sich zu (x⁵−1)/(x−1) addiert, da x=1 als Lösung aus­scheidet. Somit sind die übrigen vier fünften Einheits­wurzeln

x1,x4=exp(±2πi/5)=cos72°±isin72°=½(φ+i√(3+φ))
x2,x3=exp(±4πi/5)=−cos36°±isin36°=½(−Φ+i√(3−Φ))

die gesuchten Lösungen. Darin ist natürlich φ=(√5−1)/2≈0,618 der goldene Schnitt und Φ=(√5+1)/2≈1,618 die goldene Zahl.

Die hinteren Formelteile kenne auch ich nicht auswendig, weshalb der Rechen­lehrer zurecht eine Ablei­tung ver­langen darf, nicht nur eine Über­prüfung durch Ein­setzen in die Ausgangs­gleichung. Die Griechen hätten es ohne i am Penta­gramm gezeigt. Aber es ist auch rechne­risch ganz einfach, denn

(x²−φx+1)⋅(x²+Φx+1) = x4+x3+x2+x+1

mit x₁,x₄ als Null­stellen des linken und x₂,x₃ des rechten Faktors, die alle vier mit den ange­gebenen Werten überein­stimmen, wodurch die Aufgabe einen vernünf­tigen Sinn erhalten hat, nämlich die Berechung der folgenden vier spezi­ellen Werte trigo­nometri­scher Funk­tionen:

cos72°=φ/2≈0,309    sin72°=√(3+φ)/2=√(10+2√5)/4≈0,951
cos36°=Φ/2≈0,809   sin36°=√(3−Φ)/2=√(10−2√5)/4≈0,588

Auch ohne die vorstehenden Ausfüh­rungen, insbe­sondere ohne geome­trische Reihe kann man schnell auf den Trichter kommen, daß die linke Seite der Ausgangs­glei­chung in zwei Faktoren vom Grade 2 zerfällt, also

x4+x3+x2+x+1 = (x2+ax+b)⋅(x2+cx+d)

ist, weil Gleichungen vierten Grades ansonsten nur schwer zu lösen sind. Schnell ahnt man auch b=d=1 und kommt auf a=−φ und c=Φ oder umge­kehrt. Die jeweils zwei Null­stellen der beiden Faktoren liefern die vier Lösungen.

So, und nun ist die Zeit gekommen, mir das Film­chen anzu­sehen. Und es ist wie vermutet viel Trick­serei. Es beginnt mit: „Man kann augen­schein­lich nicht groß verein­fachen.“ Doch, denn die geome­trische Reihe ist eine starke Verein­fachung. „Gleichun­gen vierten Grades können nicht geschlos­sen gelöst werden. Da gibt es keine pq‑Formel.“ Auch falsch, denn es gibt eine Lösungs­formel.

Es wird durch x² geteilt und t=x+1/x substi­tuiert, was auf t²+t−1=0 und t=(−1±√5)/2 führt, aber nicht erwähnt, daß es wieder einmal wie in sovielen dieser Trick­filme −φ und Φ sind. Für ein t ergibt sich in vielen Schrit­ten x=−1/4−√5/4±i√(5/8−√5/8). Für das andere wird nicht neu gerechnet, sondern einfach plus mit minus ver­tauscht. Und schon ist es passiert: Es wird der gleiche Imagi­närteil errechnet. Beides einge­rahmt, das ist die Lösung.

Ich verstehe ja, daß man nicht alle vier Lösungen einsetzt und über­prüft, doch gleiche Imaginär­teile sind völlig unplau­sibel. Außer­dem sollte man als Mathe­matik-​Youtuber sich wundern, warum für sin36° und sin72° das gleiche heraus­kommt. Auch sollte man in der Lage sein, das Ergebnis ele­ganter darzu­stellen.

Im Gegensatz zu vielen anderen muß ich dem Vortra­genden aller­dings zugute halten, daß er nicht emoti­onslos und ohne Erklä­rung ein paar Tricks abspult, die er aus den bekann­ten Lösungen ableitet oder einfach abge­kupfert hat, sondern zugibt, daß man geschickt substi­tuieren muß, was eben die Kunst sei. Ja, wenn sie erfor­derlich wäre, denn es geht ja auch straight forward.

Warum schreibe ich das schon wieder in aller Breite? Weil Mathe­matik nicht nur aus Tricks besteht, wie Fran­zösisch nicht nur aus Voka­beln. Und leider wurde im Video die Chance verpaßt, auf die von mir erwähnten inter­essanten Aspekte und Zusam­men­hänge hinzu­weisen. Sie wurden zugun­sten von Rech­nerei vertan.

[1] Harvard-Test: Kannst Du diese Gleichung lösen?. Endgegner Mathe, Youtube, März 2025.

Pentagramm | goldener Schnitt

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„85+84+83+82+81+80=?“ [1] Wieder eine geome­tri­sche Reihe (8⁶−1)/(8−1)=(2¹⁸−1)/7.

Ich habe ganz einfach 1048576 durch 4 geteilt, eins abge­zogen und durch 7 geteilt. Wer 2 hoch 20 (Mega binary) nicht aus­wendig kann, der mag 2¹⁸−1=(2⁹+1)(2⁹−1)=513⋅511 multi­plizie­ren und durch 7 teilen. Und wer etwas Mathe­matik rein­stecken will, der weiß daß 513 oder 511 durch die Prim­zahl 7 teilbar sein muß. Also 513⋅73=37449. Man kann aber auch „without calcu­lator“ eine Achter­potenz nach der anderen aus­rechnen und addieren.

Kurz: Es gibt keinen Grund für das endlose Gewürge des Videos, das ich zur Abschreckung empfehle.

[1] Solving a 'Stanford Univer­sity' entrance exam question | A nice olym­piad algebra problem |. Rashel's Class­room, Youtube, März 2025. Ist es Stanford in Indien? Und wo ist die Algebra?

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Spätestens nach dem Lesen meiner vorste­henden Einlas­sungen wird zur Lösung der Aufgabe [1]

       Simplify
14+20074+20084
12+20072+20082

sicherlich nicht erwartet, einfach die Potenzen auszu­rechnen, was dank der vielen Nullen auch ohne Taschen­rechner leicht möglich ist, sondern irgend­eine ‚trick­reiche‘ Erset­zung wie x=2007 in der Hoff­nung, daß der entste­hende Bruch zweier Polynome ohne Rest teilbar ist.

Das wird im Filmchen auch gemacht. Nach der Berech­nung von (x+1)⁴ durch zwei­faches Qua­drieren statt eines wenig­stens lehr­reichen Hin­weises auf das Pascal­sche Dreieck, wird die Polynom­division ausge­führt und x²+x+1 erhalten. Die Antwort lautet damit x(x+1)+1=2007⋅2008+1=4.030.057.

Es ist ja ganz nett, daß hier einmal die Polynom­division vorge­führt wird, wo andere durch ‚geschickte‘ Erwei­terung und Aus­klamme­rung einen Faktor herbei­zaubern. Doch was macht der Mensch, der weder über akro­bati­sche Fähig­keiten verfügt, noch eine Polynom­divi­sion beherrscht?

Er verschaft sich einen Eindruck, berechnet ein paar Werte, hofft auf eine leicht erkenn­bare Bezie­hung
x        Brechnung des Bruches          x(x+1)+1
0      (1+0+1)/(1+0+1)   = 2/2    = 1    = 0⋅1+1
1     (1+1+16)/(1+1+4)   = 18/6   = 3    = 1⋅2+1
2    (1+16+81)/(1+4+9)   = 98/14  = 7    = 2⋅3+1
3   (1+81+256)/(1+9+16)  = 338/26 = 13   = 3⋅4+1
4  (1+256+625)/(1+16+25) = 882/42 = 21   = 4⋅5+1
und bestätigt seine Ver­mutung, indem er einfach

1+x4+(x+1)4 = [1+x2+(x+1)2] ⋅ [x(x+1)+1]

nach­rechnet. Das ist ein ‚Trick‘, der sich oftmals lohnt, denn eine Über­prüfung ist deut­lich leichter als eine Herlei­tung.

Mathema­tiker sind noch fauler. Stimmen linke und rechte Seite der vor­ste­henden Glei­chung in den fünf betrach­teten Fällen x=0,…,5 überein, so überall, da es sich auf beiden Seiten um Polynome von Grade 4 handelt. Sie könnten noch einen Schritt weiter­gehen und bemerken, daß Zähler und Nenner symme­trisch zu x=−½ sind, weshalb die Kor­rekt­heit für x=0,1,2 bereits ausreicht. Um diese Symme­trie zu ver­deut­lichen, hätten sie auch x=2007+2008 wählen können, was es nicht ein­facher, aber eleganter macht. Auch bemerk­ten sie sicher­lich, daß das Ergebnis der halbe Nenner der Aufgabe ist.

Kurz: Man könnte vieles aus dem Reiche der Mathe­matik lernen, wenn man links und rechts des Trampel­pfades zur Lösung 4.030.057 schaut. Das aber lassen die Youtube-​Filmchen gerne aus, die zumeist so und so nur einem alten Ori­ginal nach­empfun­den sind. Hier wohl zum Jahres­wechsel 2007 auf 2008, denn mit 2024 und 2025 ginge es auch ganz einfach: 2024⋅2025+1=​4048⋅1000+506⋅100+1=​4.098.601.

[1] British | A Nice Algebra Problem | Math Olympiad. SALogic, Youtube, November 2024. Es soll wohl nicht simpli­fiziert, sondern einfach ausge­rechnet werden.

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