Mathematisierende Spinner
Als ich letzten Montag noch einmal alle vierzig Fernsehsender durchging, sah ich Peter Sloterdijk im Gespräch mit Frank A. Meyer. Es war eine Wiederholung der Sendung "Vis a Vis" des Schweizer Fernsehens vom 12. Oktober. Man mag über Peter Sloterdijk geteilter oder gespaltener Meinung sein, wie auch über diese Einschätzung [1]:

"... daß wir seit 200 Jahren eine Wirtschaftswissenschaft haben, die keine Wissenschaft ist, ... die ihre Unwissenschaftlichkeit hinter einem riesigen Aufwand an Mathematik verbirgt. Das kann man übrigens in allen Wissenschaften sehen: Je unwissenschaftlicher sie sind, desto mathematischer werden sie. Auch die positivistische Psychologie unserer Tage, die den Menschen eigentlich überhaupt nicht mehr kennt, arbeitet auch sehr gern mit mathematischen Modellen. Die Wirtschaftswissenschaft im letzten halben Jahrhundert ist ja ein reines Spielfeld für mathmatisierende Spinner geworden."

Dem kann ich nur zustimmen. In der Wirtschaftswissenschaft wird wirklich viel herumgerechnet und gleichzeitig auf die Mathematik als einer Hilfswissenschaft herabgeblickt. Es ist nicht alles so trivial wie das Oligopol-Modell, mit dem ein Student der Mathematik zwei Semester Betriebswirtschaft bewältigen kann, oder so beliebig wie die Chartanalyse, für die durchaus mathematische Kenntnisse erforderlich sind, wie die Astrologie nicht ohne astronomische auskommt. Doch letztlich sind alle mathematischen Methoden kraftlos, wenn sie auf ein falsches Modell der Wirklichkeit angesetzt werden.

[1] Peter Sloterdijk, Vis a Vis, Schweizer Fernsehen, 12.10.2008, 42. Minute

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Hm, ich weiß nicht.
Sloterdijk schafft es mal wieder, Sachverhalte gleichzeitig auf den Punkt zu bringen und dann übers Ziel hinauszuschießen.

Er kritisiert völlig zu Recht den Zahlenkult in einigen Disziplinen. Aber das die Mathematizität einer Disziplin der Gradmesser ihrer Unwissenschaftlichkeit ist, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Sonst müsste beispielsweise in der Kunstgeschichte oder in der Literaturwissenschaft der höchste Grad an Wissenschaftlichkeit erreicht sein, weil man dort ja mit extrem wenig Mathematik auskommt.

Da wäre an dieser Stelle aber schon mal zu fragen, welchen Begriff von Wissenschaftlichkeit Sloterdijk dieser Diagnose zugrundelegt. Reden wir von intersubkejtiver Diskurs- und Konsenswissenschaft (also bösartig ausgedrückt, der Quasi-Wissenschaftlichkeit von Fachbegriffswolken in Laberfach-Disziplinen) - oder vom naturwissenschaftlichen Paradigma mit dem Postulat der Reproduzierbarkeit von Experimenten etc. ?

Falls er uns damit aber lediglich sagen wollte, dass der Verlass auf mathematische Modelle in vielen Disziplinen nicht zuletzt auch dazu dient, den Popanz einer eine Pseudo-Objektivität aufrecht zu erhalten, dann könnte man da nicht widersprechen. Gerade auch mit Blick auf Sozio-Empirie und degleichen.

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Gewiß formuliert Sloterdijk leicht angreifbar. Auch das hat ihn mir in letzter Zeit doch noch sympathisch gemacht. Natürlich fordert er nicht, daß jede schwache Wissenschaft sich mathematischer Methoden zu bedienen habe, und wird auch eingestehen, daß man als Student der Philosopie ebenfalls mit mathematischen Versatzstücken Eindruck schinden kann. Er erkennt jedoch richtig, daß Wissenschaften in der Bredouille sich in waghalsige Hypothesen flüchten und der Versuchung einer unangemessenen mathematischen Untermauerung erliegen.

Letztlich gilt das auch für die Physik, die ohne Mathematik nicht erfolgreich betrieben werden kann. In ihrer Not aber suchen die Physiker zunehmend umgekehrt in der Mathematik nach Theorien, die Gott möglicherweise in der Natur umgesetzt haben könnte.

Ob Sloterdijk allgemeinen Vorurteilen gegenüber der Mathematik anhängt, weiß ich nicht. Ich sehe deshalb in seiner Äußerung auch nur, was Sie im letzten Absatz schreiben: Auf tönernen Füßen stehende Theorien oder ganze Wissenschaften klauben sich gerne etwas aus anderen Gebieten zusammen. Die Mathematik mit ihrer Verpflichtung zur Wahrheit und Genauigkeit bietet sich dazu mitunter an.

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Gerne schießt Sloterdijk vor Fabulier-, Verallgemeinerungs- und Darstellungsfreude über das Ziel hinaus. Auch ist er keiner, der auf dem unsicheren Terrain einer Fernsehsendung nur abgesicherte Verlautbarungen von sich gibt. Deshalb lege ich nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Es ist mir so uns so zur Gewohnheit geworden, die Inhalte und nicht die Wörter zu hören. Wo ich das nicht kann, bin ich gelangweilt und schalte um.

So habe ich "je unwissenschaftlicher sie sind, desto mathematischer werden sie" hoffentlich richtig interpretiert, daß eine unwissenschaftliche Disziplin dort, wo es ihr möglich ist, großenteils der Versuchung nicht widerstehen kann, die eigenen Grundlagen und Theorien zum Zwecke einer mathematischen Behandelbarkeit zu verbiegen.

Sloterdijk meint nicht wortwörtlich, daß "die Mathematizität einer Disziplin der Gradmesser ihrer Unwissenschaftlichkeit" sei. Damit würde er Physik, Astronomie, die Mathematik selbst und sogar die Wirtschaftwissenschaft falsch beurteilen. Vielmehr sieht er im plötzlichen Anschwellen mathematischer Methoden ein Indiz. Das trifft kleine Bereiche der Physik und große der Wirtschaftswissenschaft, die zur Mathematik geflüchtet sind. Erstere mit Jahrhunderten an Erfahrung, letztere als Ausbeuter.

Mathematikfreien Disziplinen hat Sloterdijk nicht automatisch einen hohen Grad an Wissenschaftlichkeit bescheinigt. Jedenfalls nicht für mich, der ich automatisch präzisiere: Je gieriger eine Wissenschaft die sich anbietenden mathematischen Ansätze ausbeutet und dazu auch den eigenen Gegenstand verbiegt, desto unglaubwürdiger wird sie. Für Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft läßt daraus nichts ableiten. Es steht aber zu befürchten, daß auch deren Vertreter das Rechnen erlernten, sähen sie einen erfolgversprechenden mathematischen Ansatz.

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Einige Tage später spricht Peter Sloterdijk mit Daniel Cohn-Bendit und Alexander Kluge [1] über die Finanzkrise und geplatzte Blasen.

[1] Globalschaum Finanzkrise, Spinweb-TV, 16. Oktober 2008

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Haben manche [1] nicht genug eigene Schuld auf die Mathematik zu laden? Ist das der Beginn einer nicht nur abstrakten und hilfswissenschaftlichen, sondern auch gesellschaftlichen Funktion der Mathematik, nämlich als Sündenbock?

[1] "Schuld" an der Finanzkrise - auch der Glaube an die Mathematik?
- "Generation Zauberlehrlinge"
, Islamische Zeitung, 25. November 2008

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