Gerstenkorn
Der moderne Mensch kann froh sein, für Maße und Gewichte nicht mehr eine Riesen­palette von Bezeich­nungen erlernen zu müssen, deren Umrechnung unein­heitlich oder ihm gar unbekannt ist. Da den Ameri­kanern ihr Durch­einander soweit geläufig ist, sich durch den Alltag schlagen zu können, erscheint die Aneig­nung eines zusätz­lichen Systems über­flüssig, mühsam und mit Angst besetzt. Müssen sie aber den vertrauten Alltags­bereich verlassen, haben sie mitunter nur ungenaue Vorstel­lungen. Die Größen sind nicht verinner­licht, Bezeich­nungen nicht geläufig. Für Längen unterhalb eines Zolls waren verschie­dene, nicht immer eindeu­tige und auch vom zu messenden Objekt abhängige Maßein­heiten üblich. In moderner Zeit wurden neue hinzuge­dichtet. Teilweise sind sie noch im Gebrauch. Ein kleine Auswahl:
twip       - 0,01880 mm - 1/1440 "Zoll" (Schrift)
mil        - 0,02540 mm - 1/1000 amerikanischer Zoll
thou       - 0,02540 mm - 1/1000 englischer Zoll
douzieme   - 0,18799 mm - 1/144 Pariser Zoll
point      - 0,37606 mm - 1/72 "Zoll" (Schrift)
ounce      - 0,39688 mm - 1/64 Zoll (Leder)
line       - 0,63500 mm - 1/40 Zoll (Knopfgrößen)
scripulum  - 1,02900 mm - 1/288 römischer Fuß
poppyseed  - 2,11667 mm - 1/12 englischer Zoll
ligne      - 2,25583 mm - 1/12 Pariser Zoll
sicilicum  - 6,17400 mm - 1/48 römischer Fuß
barleycorn - 8,46667 mm - 1/3 englischer Zoll
Vermutlich bei "Bares für Rares" habe ich mehrfach gehört, daß ein Karat (200 mg) nicht nur dem Gewicht einer Frucht des Johannis­brot­baumes ent­spricht, sondern auch dem dreier Gersten­körner. Und bei den Zollstock­freun­den [1] habe ich gelesen, daß ein Drittel des engli­schen Zolls nicht nur Gersten­korn genannt wird, sondern Edward II den Zoll tatsäch­lich so festge­legt haben soll. Wenn er dies wirk­lich und redlich in die Wege leitete, konnte der engli­sche Zoll nur vor 1324 exakt als 36/35 römi­sche Zoll gesehen worden sein. [2] In den letzten 200 Jahren wurde er dann mehrfach umdefi­niert und endete mit genau 2,54 Zen­time­tern unab­hängig vom römischen Fuß oder Gersten­korn.

Wie realistisch ist die Gersten­kornvor­stellung? Wie fett waren die Gersten­körner damals? Wurden nur besonders schöne oder ins System passende gewählt? Schon die Sumerer teilten den Finger in 6 Gersten­körner, aller­dings der Breite nach. Das sind 8 pro Zoll. Jedem Korn von 1/8 Zoll Dicke und 1/3 Zoll Länge ist ein Quader von 1/192 Kubik­zoll zugeordnet. Ich bin kein Landwirt, habe nicht Lebens­mittel­kunde studiert und orien­tiere mich für reale Körner an den mageren gefun­denen Angaben. Nach [3] ist das Tausend­kornge­wicht 40 Gramm, das Hekto­liter­gewicht 69 Kilogramm, die Korn­länge beträgt 8 Milli­meter. Aus den Angaben für Weizen und Roggen nehme ich ein spezi­fisches Gewicht von 1,3 an. [4] Bilder bestä­tigen ein Längen-Breiten-Verhäl­tnis von 8 zu 3.

Auf der Basis dieser Angaben sieht für mich ein "metro­logi­sches" Gersten­korn wie folgt aus: Es ist 8 Mili­meter lang und 3 Milli­meter dick. Das Volumen umfaßt mit 31 Kubik­milli­metern 43 Pro­zent des umschlie­ßenden Quaders von 72  Kubik­milli­metern. Das Gewicht eines Kornes beträgt 40 Milli­gramm, die Dichte ist 1,3 Gramm pro Kubik­zenti­meter. Aufge­schüttet nimmt Gerste nur 53 Pro­zent des Volumens ein. Das ist weit weniger als die dich­teste Kugel­packung, aber auch deutlich mehr als in recht­winkliger Anord­nung.

Das englische grain (64,8 mg), das römische gra­num (47,4 mg) und auch das sume­rische Se (46,8 mg) stehen für das Gewicht eines Gersten­kornes. Wenn das stimmen soll, muß man zu allen Zeiten beson­ders große und runde Körner ausge­wählt haben. Tatsäch­lich kommt man heutzu­tage an diese Kornge­wichte heran. Doch wie passen diese Körner gleich­zeitig in das jeweilige Längenmaß? Glück­licher­weise stehen Spinti­sierern, Numero­logen und Rado­sophen Stell­schrauben zur Verfü­gung, um die nicht zu leug­nende Realität dem eigenen Denk­schema anzu­passen: Weniger das spezi­fische Gewicht, mehr die Form und das Längen-Breiten-̣Verhältnis.

Das sumerische Gewicht von 46,8 Milligramm mag noch angehen, wäre da nicht der schmale Finger von nur 17,3 Milli­metern. Viel­leicht wurden lange, ellip­tische Körner ausge­wählt. Eine um 15 Pro­zent gestei­gerte Länge und Raum­füllung würden reichen. Das ist zwar weniger als die Mehrwert­steuer, doch mußten die Körner stolze 8,8 Milli­meter lang sein und fast eine ellip­tische Form errei­chen. Im Vergleich zu wirk­lichen Gerstenkörner sähen sie wie Stäbe aus. Das kann glauben, wer will.

Die Römer sind mit 47,4 Milligramm reali­stischer, denn ihr Fuß ist etwas größer. Hier reichen 4 Pro­zent zur Anpas­sung. Es ist also durchaus denkbar, durch Auswahl schöner Körner zu den römi­schen Maßen zu gelangen. [5] Sie müssen 3,1 Milli­meter dick und 8,6 Milli­meter lang sein, dazu nur wenig runder als ein normales Gersten­korn. Es bleibt aber dabei: Man kann eine Länge und ein Gewicht nicht anhand von Gersten­körnern defi­nieren. Selbst dann nicht, wenn man besonders schöne auswählt. Und das haben die Römer auch nicht getan.

Auf den ersten Blick sieht es mit 64,8 Milligramm bei den Englän­dern schlimmer als bei den Sume­rern aus, doch legen sie nur die Länge fest, wodurch die quadra­tisch ins Volumen einflie­ßende Dicke zur Anpas­sung zur Verfü­gung steht. Deshalb reicht es, Dicke und Raum­füllung um 11 Prozent zu vergrößern. Die engli­schen Körner wären zwar nicht ganz so stabförmig wie die sumeri­schen, doch wiegen sie einfach zuviel. Engli­sches Bier könnte vermuten lassen, die Körner seinen mit Wasser aufge­pumpt. Doch das senkte das spezi­fische Gewicht und würde die Körner noch volumi­nöser machen.

Was also bleibt? Als Längenmaß steht ein Gersten­korn für den sechsten Teil eines Fingers oder den dritten Teil eines Zolls. Im ersten Falle ist es die Gersten­korn­breite von etwa 3 Milli­metern, im zweiten die Gersten­korn­länge von etwa 8 Milli­metern. Die Bezeich­nung dieser Längen als Gerstenkorn geht auf die Abmaße wirklicher Körner zurück, deren Regel­mäßig­keit aber nicht ausreicht, um auch nur ein grobes Maß aus ihnen abzu­leiten. Und nur drei große, fette Gersten­körner wiegen ein Karat.

[1] Meilensteine der Längenmaße. Zollstockfreunde.
[2] Ich weiß nicht, ob es sich um Wunsch­denken handelt, wenn man wegen der Flächen­halbie­rung und -verdoppe­lung 1 rod, also 16,5 foot aus 12·sqrt(2) römi­schen Fuß abge­leitet hat. Dann wäre 1 foot gleich (8/11)·sqrt(2) pes. Sollte sqrt(2) mit 99/70 ange­setzt worden sein, dann entsprä­chen 35 foot genau 36 pes, meinet­wegen auch pedes.
[3] Acker: Kohlehydrat­reiche Lebens­mittel. Springer, 1967. S. 58
[4] Heute muß es wohl politisch korrekt Tausend­korn­masse und Hekto­liter­masse heißen. Und ein spezi­fisches Gewicht von 1,3 entspricht einer Dichte von 1300 Kilo­gramm pro Kubik­meter, wenn man noch vor dem Wort Masse­volumen­dichte zurück­schreckt.
[5] Es wird von mir ange­nommnen, daß die Römer in der Tradi­tion der Ägypter und Sumerer den Finger ebenfalls als sechs Gersten­körner breit gesehen haben. Aller­dings habe ich keine Bezeich­nung für 1/96 Fuß gefunden.

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