Regeln, Regeln, Regeln, Regeln
In der auch das normale Leben prägenden modernen Welt des Internets, der Prominenten und des Finanzmarktes ohne Moral, in der alles darf und nichts muß, in der Schein und Sein verschwimmen, in der vor allem der Erfolg zählt, sind Regeln eine lästige Angelegenheit. Man bräche sogar die Naturgesetze, wäre dies von Erfolg gekrönt. Lug, Trug und Diebstahl sind erlaubt. Auch Ehrlichkeit, Loyalität und Großmut sind sinnvoll, wenn sie ins Ziel führen. Dieses Ziel umfaßt nicht nur Geld und Macht, sondern auch Anerkennung und Wohlbefinden.

Der unerschütterliche Glaube dieser modernen Nihilisten, daß persönliche Vorteilsnahme zwar einem anderen schaden kann, der für sein Mißgeschick selber verantwortlich ist, im Großen und Ganzen aber das System und die allgemeine Wohlfahrt mehr befördert als Verzicht, Solidarität oder Gesetzestreue, hat in den letzten Wochen einen Dämpfer erhalten. Vielleicht ein zu kleiner nur auf den Finanzmarkt und die Wirtschaft beschränkter, der den allgemeinen Hedonismus nur ankratzt.

"Jetzt hat sich aber gezeigt, daß es immer noch eine Gruppe gibt von Akteuren, die externalisieren wie Konquistadoren des 18. und 19. Jahrhunderts. Die werden im Augenblick durch diese Krise eingefangen oder zurückgepfiffen. Deswegen hört man ja auch nur ein Wort, ich glaube es ist auch das Wort, das am häufigsten festgestellt werden wird, wenn man eines Tages eine Sprachstatistik unseres großen Crashs erstellen wird. Das ist das Wort Regeln. Regeln, Regeln, Regeln, Regeln. Ich glaube, man hat seit dem Beginn der Schöpfung dieses Wort noch nie so häufig gebraucht wie in diesen Tagen, nicht einmal in einem Wittgenstein-Seminar hat man das Wort Regel so häufig und so emphatisch benutzt wie jetzt, und seltsamerweise mit einer so positiven Betonung."

Das sagt Peter Sloterdijk im Gespräch mit Frank A. Meyer [1] und übertreibt gewiß erneut, denn die Geschichte wird unsere derzeitige Finanzkrise nur als eine in einer langen Reihe sehen und möglicherweise andere Wörter als wichtiger erachten. Trotzdem wird es wieder zu strengeren Regeln kommen, möglicherweise zu staatlich verordneten oder aus einer Gegenbewegung der nach wie vor moralisch orientierten Mehrheit heraus. Dann wird sich macher wünschen, Seinesgeichen hätten sich rechtzeitig wenigstens an die Grundregeln des Anstandes gehalten.

Es bedarf immer mehrerer Einbrüche, um die Grundlagenfehler zu sehen und keinen Unfall anzunehmen. Jetzt ist klar geworden, daß die Profitmaximierung unabhängiger Egoisten eben nicht das haushoch überlegenen System darstellt. Daß einige sich unmäßig an vielen bereichern, ist darin durchaus vorgesehen. Doch die Betrogenen finden sich damit nicht ab. Sie springen nicht einzeln vom Dach oder strampeln sich erneut nach oben. Sie schlagen als Gruppe zurück, als Zivilgesellschaft, die es in Europa noch immer gibt.

Aber auch unabhängig von der Wehrhaftigkeit der Betrogenen und Verlierer weist das Finanzsystem des neoliberalen Kapitalismus mindestens eine Strukturschwäche auf. Es entspricht nicht einem Millionen-Personen-Spiel, in dem ich die zahlreichen Gegner wie statistische Größen kalkulieren kann. Plötzlich verhalten sie sich anders als berechnet, möglicherweise chaotisch und im schlimmsten Falle aus einem vielleicht verborgenen Grunde uniform. Zum Beispiel dann, wenn viele das gleiche Programm zum automatischen Aktienhandel benutzen oder wenn wie bei der VW-Aktie viele auf die gleiche Schnapsidee kommen.

Peter Sloterdijk, Vis a Vis, Schweizer Fernsehen, 12.10.2008, 6. Minute

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Tatsächlich fällt zur Zeit bei Anne Will ständig das Wort Regel. Nicht nur in dem Sinne, daß strafbewehrte Vorschriften einzuhalten sind, man sich also im legalen Bereich zu bewegen hat. Es klingen auch allgemeine Regeln an, wie sie einen redlichen Kaufmann oder einen anständigen Menschen auszeichnen. Zum Beispiel Schlupflöcher des Systems nicht brutal auszunutzen oder nicht in Steuer- und Rechtsoasen zu flüchten. Um diese Regeln geht es. Es ist wie beim Skatspiel. Man muß nicht nur gemäß den Spielregeln bedienen, zumal der gute Gegenspieler es so und so bemerkt, sondern sollte als anständiger Spieler auch nicht solange rumsabbeln, bis die anderen vergessen haben, welche Karten bereits gefallen sind.

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