Der Ball ist rund
Der Fußball ist seit der letzten Welt­meister­schaft runder als je zuvor, wenn er anfäng­lich auch etwas flatterte. Er besteht nicht mehr aus den 12 schwar­zen Fünf- und 20 weißen Sechs­ecken des Ikosaeder­stumpfes mit seinen 60 Ecken und 90 Kanten, sondern aus 6 Propel­lern und 8 Turbi­nen, von denen bei genau­erem Hin­sehen die eine Hälfte links und die andere rechts herum dreht. Wer von der geschwun­genen Form der moder­nen Schweiß- statt der alter­tüm­lichen Klein­kind-Nähte absehen kann, erkennt einen Oktaeder­stumpf mit seinen 24 Ecken und 36 Kanten.

Der naive Betrach­ter mag das wieder einmal für einen Triumph der praxis­orien­tierten Inge­nieure von Adidas über theore­tische Mathe­matiker halten, die in geraden Linien und regel­mäßigen Struk­turen befangen sind und sich schon über­winden müssen, einen nur archi­medi­schen und nicht plato­nischen Körper zu sehen. Und wer den neuen Ball für einen Triumph der Mathe­matik hält, der ist nicht näher an der Realität:
  • Soll eine Kugel mit Leder oder einem anderen bieg-, doch wenig form­baren Material bespannt werden, müssen die Teil­stücke nicht sehr klein, sondern nur schmal sein. Eines reicht aus, so wie ein Apfel in einem Zuge schälbar ist.
  • Große und unregel­mäßige Teilstücke machen den Fußball nicht runder, aber auch nicht eckiger, wenn sie kaum gegen die Längsrichtung gebogen werden müssen. Nur lassen sie sich schwerer als regel­mäßige Stücke von paki­stani­schen Kindern vernähen.
  • Die Teilstücke können sogar recht breit und groß­flächig sein, wenn sie vorgeformt sind. So könnten dem­nächst auch Qualitäts­bälle aus zwei Halb­kugeln geklebt werden. Eines Tages wird der Ball sogar nahtlos aufge­blasen.
  • Weniger Ecken, an denen Nähte zusammen­stoßen, bedeuten weniger Schwach­stellen. Doch werden dadurch die Nähte länger und schwie­riger. Sind sie auch noch geschwun­gen, geht es ohne präzise arbei­tende Maschi­nen kaum noch.
Kurz: Mit der Welt­meister­schaft ersetzte der Stumpf des Okta­eders den des Ikosa­eders. Nicht weil erst im 21. Jahr­hundert seine Über­legen­heit erkannt wurde, sondern weil der tech­nische Fort­schritt weniger und zugleich kompli­zierte Teil­stücke erlaubt. Ausschlag­gebend aber war wohl eher das verän­derte Aussehen, das Inno­vation unmittel­barer vermu­ten läßt als Fort­schritte im Mate­rials und seiner Verar­beitung.

Mich interessiert kaum, welcher Kunst­stoff mit welcher Ober­fläche und welchen Schweiß­nähten zu einem so runden Ball führt, der nach­weislich nicht flattert und mit einem zu ihm passen­den Schuh von Adidas sich genauer als je zuvor an die vorge­schrie­bene Flug­bahn hält. Wichtiger sind mir drei Fragen:
  • Die erste seit der Weltmeister­schaft 2006: Der Billig­ball meiner Kinder besteht aus den 12+20 Stücken des Standard­balles, der mit dem neuen Layout (+teamgeist) bedruckt ist. Warum wurde dazu das neue ortho­gonale Muster gerade in dieser Weise auf den Ikosa­eder proje­ziert?
  • Die zweite seit der Europameister­schaft 2008: Die Pro­peller haben an ihren Enden zwei große schwarze Punkte bekom­men. Insgesamt sind es zwölf Stück. Warum wurden diese Punkte beim Billig­ball aus den 12+20 Stücken nicht einfach auf die Fünf­ecke gedruckt?
  • Die letzte und wesentliche Frage: Warum sehe ich im neuen Ball mit seinen 6 Propel­lern und 8 Tur­binen nicht den Oktaeder­stumpf mit seinen 6+8 Flächen, sondern einfach einen Würfel mit seinen 6 Flächen und 8 Ecken?
"Wer flattert: Der Ball oder die Nerven?", Hamburger Abendblatt, 6. Juni 2008, www.abendblatt.de/daten/2008/06/06/890466.html

Eric W. Weisstein, "Archimedean Solid", Mathworld, Wolfram Web Resource, mathworld.wolfram.com/ArchimedeanSolid.html"

Eric W. Weisstein, "Platonic Solid", Mathworld, Wolfram Web Resource, mathworld.wolfram.com/PlatonicSolid.html

Hartmut Ring, "Wie revolutionär ist der neue WM-Ball wirklich?", www.math.uni-siegen.de/ring/wm-ball.html

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